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Leben und Werk Jules Vernes: 

Aus dem Archiv

TriangelTriangel

Der nachfolgende Textbeitrag dieser Seite ist keine Ausarbeitung von mir, sondern eine Ergänzung meiner Homepage. Für die Veröffentlichung des Artikels auf meinen Jules-Verne-Seiten habe ich durch den Autor Prof. Elmar Schenkel mit Schreiben vom 21. Mai 2005 die Genehmigung erhalten. Der Originalbeitrag wurde in der MDR-Zeitschrift TRIANGEL, Das Radio zum Lesen, 10. Jahrgang, März 2005 Seite 6 bis 35, ISSN 1432-9476 veröffentlicht. CF /6988/. Die nachfolgende Wiedergabe erfolgt ohne die üppigen Illustrationen des Originalbeitrages. Die ganz unten stehenden Anmerkungen wurden nachträglich für die WEB-Aufbereitung hinzugefügt, sie sind nicht Bestandteil des Originalbeitrages.


Ein Tor zur Welt

Ein Gespräch mit Professor Elmar Schenkel, Leipzig

von Thomas Fritz

Als Jules Verne am 24. März 1905 stirbt, hinterlässt er nicht nur ein umfangreiches und vielgestaltiges Werk, sondern ist auch ein außerordentlich erfolgreicher – auch bereits international erfolgreicher – Schriftsteller. Heute, hundert Jahre später hat er an Popularität keineswegs verloren. Und das, obwohl was ihn einst berühmt gemacht hat, nämlich die visionäre Vorwegnahme künftiger Erfindungen und technologischer Errungenschaften, in diesen hundert Jahren sehr wohl von der Wirklichkeit eingeholt worden ist – das U-Boot oder die Rakete mochte man zu Jules Vernes Lebzeiten für sensationelle Neuerungen halten, heute gehören sie zu Selbstverständlichkeiten, die einem höchstens ein Achselzucken entlocken. Doch der Faszination die von seinen Büchern ausgeht, hat das keinen Abbruch getan. Und so setzt MDR Figaro seine im vergangenen Jahr mit 20000 Meilen unter den Meeren begonnene Hörspiel-Trilogie im März mit In 80 Tagen um die Welt fort, bevor sie im November mit der Reise zum Mittelpunkt der Erde ihren Abschluss findet – zwei Hörspielmehrteiler, die außer im gewohnten Stereo-Format auch wieder im imnnovativen 5.1 Surround-Sound zu hören sein werden. Für Triangel befragte der MDR-Hörspieldramaturg Thomas Fritz den Leipziger Anglisten Professor Elmar Schenkel zum „Vater der Science-Fiction-Literatur“.

Jules Verne hat bis heute ungebrochenen Ruhm, seine anhaltende, auch noch hundert Jahren noch anhaltende Beliebtheit bei den Lesern, dann bei den Kinogängern – wo, meinen Sie Herr Professor Schenkel, sollte man nach den Gründen dafür suchen, dass die realen technischen Innovationen des 20. Jahrhunderts ihre literarische Antizipation so wenig haben verblassen lassen?

Zunächst mal, was den Prognosecharakter angeht, so hat Jules Verne oft nur Dinge verlängert, die schon erfunden waren, auch das U-Boot gab es schon länger. Nur: das U-Boot so einzusetzen, dass es um die Welt fährt, und dass das Interieur, das Wohnzimmer des 19. Jahrhunderts mitschwimmt, inklusive  Raucherzimmer, samt der Bibliothek des Kapitän Nemo, da kommen Aspekte hinzu, die über das rein Technische hinausgehen. Aspekte, die damit zu tun haben, dass seine Helden einfach auch interessant sind. Kapitän Nemo ist ja interessant nicht deshalb, weil er ein Verkünder von neuer Technik ist. Er beherrscht sie zwar, aber er ist eben auch ein Anarchist. Und das ist bei vielen Figuren von Jules Verne so. Sie sind eigentlich selber schon wie Geschosse, die aus der Gesellschaft rausgeflogen sind, die zum Mond fliegen, im übertragenen Sinn. Und insofern ist bei ihm der Außenseiter sozusagen der Sieger, zumindest zeitweise. Der Außenseiter ist der Starke, das ist fast so etwas wie Harry Potter, oder Aschenputtel. Dieses Motiv könnte eine Rolle spielen.

Und dann, er erzählt seine Geschichten eben auch sehr gut. Man darf zum Beispiel seinen Humor nicht unterschätzen, oder wie er Figuren charakterisiert, das hält den Leser auch bei der Stange. Und er ist sehr vielseitig, es kommen immer wieder neue Abenteuer. "Fünf Wochen im Ballon" etwa, da gibt es jeden Tag irgendein neues Abenteuer, da kommen Eingeborene, die mit Pfeil und Bogen schießen, oder Medizinmänner, die einen Hexentanz vollführen, oder Lämmergeier, die den Ballon zerstören, oder Wind und Feuer und Wüste, die Elemente... Er kann auch sehr gut, wie ein Komponist, die verschiedenen Variationen eines Themas durchspielen. Ohne langweilige Passagen zu produzieren. Natürlich gibt es da auch einige wissenschaftliche Beschreibungen, geografische Beschreibungen, das Ausschütten von Lexika und Enzyklopädien an bestimmten Stellen, um die kann der Leser dann mal einen Bogen machen, wenn er will. Ich finde, er ist insofern auch aktueller als zum Beispiel Karl May. Für mich ist Karl May eigentlich eine Zeitlang das deutsche Gegenstück zu Jules Verne gewesen, es sind viele damit sozialisiert worden, in Frankreich ist es eben Jules Verne gewesen. Und das zeigt vielleicht auch gleich bestimmte Probleme oder Defizite in der deutschen Sozialisation, bei Karl May ist die Wissenschaft ja nicht so toll vertreten, sondern mehr Abenteuer, Sentimentalität, Exotik. Auch ein Tor zur Welt.

Das wäre vielleicht überhaupt ein weiterer Punkt für Jules Vernes Aktualität: dass seine Bücher ein Tor zur Welt sind. Für mich, aus heutiger Sicht, ist er auch der erste Autor, der die Globalisierung beschrieben hat, der in jedem Kontinent irgendwelche Abenteuer laufen hat. Und wenn man jung ist und noch nichts gesehen hat, ist das wirklich ein Zugang zur ganzen Welt. Mit wissenschaftlichen Mitteln, mit Humor, mit Abenteuern. Interessant ist auch die Frage des Rassismus und Kolonialismus, da ist er ja teilweise ziemlich holzschnittartig, eben der reine Zeitgenosse, aber auch nicht immer. Aus heutiger Sicht gibt es da auch interessante Stellen, wo er zum Beispiel sagt: Vielleicht gehört Afrika ja die Zukunft! Und nicht mehr Europa! Da hat er auch Elemente, die nicht so ins Bild reinpassen. Irgendwie ist er eben immer auch ein unzeitgemäßer Zeitgenosse seiner eigenen Zeit.

Obwohl man ihn auch für eine Galionsfigur seiner Zeit halten könnte, in seinem Vertrauen auf den Fortschritt, auf eine Zivilisation, die sich vervollkommnet ...

In seinen Hauptwerken ist er das auch noch, dass muss man auf jeden Fall sagen. Es gibt aber unbekanntere Werke, wo die Stimme etwas brüchiger wird. Da gibt es die Geschichte „Das Geheimnis des Dr. Ox“ der ein Gas erfindet /1/, mit dem alles beschleunigt wird in einer Stadt in Flandern, wo alles sehr langsam ist, wird dieses Gas gesprüht, und die Leute werden plötzlich alle sehr schnell, das Orchester spielt in einer Stunde etwas, wozu es sonst drei Stunden gebraucht hat. Es ist eine Art Zwang ... Der Zwang der Modernität taucht da auf. Plötzlich werden die Leute aus ihrem Lebensstil rausgeworfen. Und da gibt’s noch so ein paar andere Geschichten, auch welche, die in der Zukunft spielen. Er hat nur selten etwas in der Zukunft angesiedelt, ganz untypisch für Science Fiction. Die Geschichten spielen meistens im 19. Jahrhundert, in seiner unmittelbaren Gegenwart der siebziger, achtziger Jahre. Aber es gibt ein paar Ausnahmen. Zum Beispiel einen „Bericht eines Journalisten aus dem Jahre 2889“. Da geht’s dann auch erst mal um Technik, da gibt’s Faxgeräte, Fernsehtelefone, mechanische Ankleideapparate, elektrischen Hypnotismus, da besteht die Gefahr, dass der Mensch in Körper und Geist gespalten wird... Es wäre ja ganz interessant, mal zu fragen, was das genau ist, elektrischer Hypnotismus, ob das vielleicht was mit unseren Computern zu tun hat, wer weiß. Werbung erscheint am Himmel, England ist eine Kolonie der USA, also auch satirische Elemente sind da drin, Indien gehört zu Russland, und für die Zukunft lässt man sich eineisen. Das ist alles noch nicht sehr subversiv, aber das andere, was er dann geschrieben hat, ich glaube eins seiner ersten Werke, das erst postum erschienen ist, „Paris im 20. Jahrhundert“, es ist auch erst vor ein paar Jahren auf Deutsch erschienen – das ist sehr pessimistisch, was die Kunst angeht, und da können wir uns auch gut wiederfinden. Da geht es nämlich eigentlich um die Eventkultur in der Gegenwart, also seiner Zukunft, im 20. Jahrhundert. Die Literatur hat da überhaupt keinen Platz mehr, er sagt: „Die Kunst ist nur mehr möglich, wenn sie mit einem Hochseilakt daherkommt. In unser heutigen Zeit würde Victor Hugo seine Orientalia vortragen, während er auf Zirkuspferden Luftsprünge vollführt.“ Das ist ja wirklich der Zirkuscharakter des Fernsehens. Da zeigt sich, das er die Entwicklung des literarischen Marktes sehr realistisch gesehen hat, mit dem er ja viel zu tun hatte, zu kämpfen hatte, als Theaterautor, später mit seinen regelmäßig erscheinenden „Außergewöhnlichen Reisen“, und er hat ja noch viele andere Dinge nebenher geschrieben, eine „Geschichte der Entdeckungen“ und so weiter.

Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts war die Hochzeit der industriellen Revolution, und Jules Vernes Bücher belegen eindrucksvoll, wie der damals durch die Gesellschaft brechende Innovationsschub Freiräume für literarische Phantasie eröffnen konnte. Heute sieht es anders aus. Wissenschaft und Technik sind, abgesehen vielleicht von den virtuellen Welten des Cyberspace, längst keine Inspirationsquelle für Literatur mehr, höchstens als Widerpart. Woran lag es, dass sich zu den Zeiten Jules Vernes „Science“ und „Fiction“ gegenseitig befruchteten, so stimulieren konnten?

Vielleicht lag es ja daran, dass die Romantik bestimmte Modelle entworfen hatte für das Leben: Abenteuer, Exotik, alles Rezepte für die Überwindung von Langeweile, und dass die Technik in ihrem Frühstadium diese romantischen Motive noch am ehesten verwirklichen konnte. Durch die modernen Transportmittel konnte man jetzt Reisen unternehmen nach Afrika, oder zum Mond, das konnte man sich nun vorstellen. Die Dinge waren in einem Übergang von dem, was man sich früher unter Magie vorgestellt hat, hin zur Technik. Und die Technik verkörperte damals eine Kraft der Verwirklichung von Märchen, Träumen, Siebenmeilenstiefeln, zu magischen Objekten sozusagen, die noch ganz anschaulich waren. Heute sind diese magischen Objekte alle so vernetzt und hinter einer black box verschwunden... ein Computer ist eigentlich nicht mehr so magisch wie das erste Auto. Der Computer taucht im Märchen noch nicht auf, allenfalls als Zauberspiegel. Während es Fahrzeuge, die ganz schnell dahersausen, schon in den alten Mythen gibt. Die Technik selber hat sich so verändert, dass man sie nicht mehr als Magie empfindet, oder als verwirklichte Romantik.

Unser Interesse kommt vielleicht daher, dass wir eine Sehnsucht zurück haben nach solch einem Zustand, als Technik noch mit Magie in Berührung war. Wo noch ein großes Durchatmen, oder ein großes Luftholen durch die Welt geht, wenn man den ersten Zeppelin fliegen sieht oder die ersten Ballons oder die ersten U-Boote. Das können wir heute eigentlich nicht mehr, in dieser Art. Es ist nicht mehr so anschaulich. Wir haben das Staunen über Technik verlernt.

Aber noch mal zurück zur aller ersten Frage warum Jules Verne eigentlich so aktuell geblieben ist oder jedenfalls immer noch lesbar bleibt. Interessant ist ja, dass sich in Frankreich viele berühmte Schriftsteller mit Jules Verne beschäftigen. In Deutschland ist das nicht der Fall, er gehört eben nicht wirklich zu unserer Sozialisation. Also zum Beispiel Michel Foucault, Michel Serres, Philosophen, Autoren. In Frankreich erschient zur Zeit sehr viel über Verne, wegen des Jubiläums. Michel Serres zu Beispiel, der Wissenschaftshistoriker und Kulturphilosoph, hat ein ganzes Buch über Jules Verne geschrieben, in dem er zeigt, dass bestimmte archetypische Momente in seinen Geschichten immer da sind, die unabhängig von der Technik interessant machen. Zum Beispiel die Kreisbewegung ist sehr wichtig, das Zirkuläre, also ein mystisches Motiv. Oder auch die Fahrt der in die Unterwelt, das haben wir ja in den „20 000 Meilen“ und auch in der „Reise zum Mittelpunkt der Erde“. Also eine Mythische Reise, die einer Initiation gleichkommt. Eine Reise in das eigene Selbst. Eine Reise, die durch eine Reifung stattfindet für den Helden, und der heißt auch noch Axel, da ist also die Achse, die Erdachse. Da ist ein mythisches Motiv, so eine Achse runterzugehen und eine Transformation zu erleben, die Reise zum Mittelpunkt. Danach darf er dann heiraten, vorher war das noch nicht möglich. Also wie in den alten Stammeskulturen, da gehst du in eine Höhle oder in die Erde, und dann bist du ein erwachsener Mann. Michel Serres spricht von drei Ebenen, die man bei Jules Verne sehen kann: die geografische Reise, die liegt ja auf der Hand, in fast allen Büchern. Dann die wissenschaftliche Reise, das heißt, die Reise hat etwas mit Wissensfindung und dem Sammeln neuer Erkenntnisse zu tun, über eine Route durch Afrika, die Quellen des Nils usw. Und das Dritte wäre eine initiatische Reise, also eine psychische Reise, eine Initiation in das eigene Selbst. Orpheus in der Unterwelt. Durch den Hades gehen. Durch Prüfungen gehen. Und indem er solche mythischen Modelle benutzt, ist er natürlich immer ein Zeitgenosse. Wir sind noch nicht heraus aus diesem Schema, egal, was wir schreiben, irgendwie müssen wir uns damit auseinandersetzen.

Gerade in den unbekannten Werken kommen noch zusätzliche Dinge hinein, die teilweise sehr aktuell sind. Zum Beispiel hat er ein Buch geschrieben „Das Reisebüro Thompson“, zwei Bände /2/. Kennt keiner, ist auch schwer zu finden. Da geht es um zwei Reisefirmen, die sich gegenseitig unterbieten um Touristen abzugraben, sagen wir mal TUI und Neckermann. Der eine geht so weit, dass der andere kaputt geht, das führt aber dazu, dass das Unternehmen, das im Kampf gesiegt hat, am Ende ebenfalls zugrunde geht, weil es einfach die Standards nicht halten kann, es ist zu billig geworden. Da wird ein Übersetzer engagiert, für Spanisch oder Englisch. Und dann stellt er fest auf dem Schiff, dass er noch zwölf andere Sprachen bedienen muss, weil so wenig Geld da ist für Übersetzer. Einer statt zwölf, das finde ich sehr aktuell diese Schrumpfung, diese Verteilung der Arbeit auf möglichst wenige. Es sind auch witzige Ideen dabei: „Das Testament eines Exzentrikers“ zum Beispiel, in dem die gesamte USA zu einem Spielbrett erklärt werden. Ein Exzentriker, der gestorben ist, bestimmt in seinem Testament: es werden sechs Personen ausgesucht, durch Losentscheidung, die ein Spiel machen müssen. Die bewegen sich durch die USA, auf Feldern, per Würfel, und auf einem Feld muss man zurück oder wird in den Knast gebracht oder ähnliches. Das ist eine geniale Idee, die ganze Geografie zu einem Spiel zu erklären.

Spiel ist überhaupt bei Jules Verne sehr wichtig, der Wettlauf ist auch eine Form des Spiels, bei Phileas Fogg z.B.. Und am Ende stellt sich dann noch heraus, dass der Exzentriker auch selber teilnimmt, der ist nämlich gar nicht tot, sondern der ist als ein Mister X mit in diesem Spiel. ... Eine spannende Sache. Es tauchen auch Deutsche auf, die haben es mal wieder sehr schwer, wie bei Jules Verne eigentlich immer, diese Deutschen. Oder nehmen wir den Roman über die „500 Millionen der Begum“, in dem wieder eine Erbschaft eine Rolle spielt. Sie werden zu gleichen Teilen verteilt, an einen französischen Professor und an einen deutschen Professor, auch wieder ein Spiel im Grunde. Der Franzose baut mit dem Geld eine superhygienische Zukunftsstadt, und der Deutsche baut „Stahlstadt“, da dampft es aus allen Rohren, da werden Kanonen gebaut, die sich natürlich auf Frankreich richten. Und dann gibt’s einen Elsässer, der als Spion fungiert.

Das Elsass ist ein politisches Thema für Jules Verne. 1870/71 ist das Elsass an Deutschland gegangen, das hat ihn schwer gewurmt. Es gibt auch politisch sehr interessante Geschichten. Etwa einer seiner letzten Romane, „Das Geheimnis des Wilhelm Storitz“. Hier geht es um einen Unsichtbaren, das ist ein deutscher Chemiker, der sich unsichtbar machen kann, und der mischt sich als Störenfried ein in die Heiratsbestrebungen zwischen einen Franzosen und einen Ungarn. Das kann man politisch lesen, im Hinblick auf den Einfluss Deutschlands oder Preußens und Frankreich auf dem Balkan. Der Kampf um Ungarn sozusagen.

Wenn ich Sie so höre, habe ich das Gefühl, dass die Handvoll sehr populärer Werke gerade durch ihre immense Popularität den Blick auf viele Schätze dieses riesenhaften Werkes auch verstellen ...

Ja, das ist sicher so. Da gibt es eigentlich noch eine Menge zu entdecken.

Um auf das Archetypische zurückzukommen, als Dramaturg staune ich oft, wie geschickt, wie robust und wirkungsvoll Jules Verne seine erzählerischen Maschinerien konstruiert hat, er ist eigentlich auch als Autor eine Art Ingenieur, der bestimmte Grundmuster aufgreift und sie perfektionieren will. Bestimmte Antriebe, bestimmte Übertragungsmechanismen. Jules Verne kommt ja vom Theater her, und das zeitgenössische Vaudeville könnte man geradezu als Perpetuum mobile der Dramatik bezeichnen. Jules Verne baut seine Romane mit einem ähnlichen Ehrgeiz.

Das würde ich auch so sehen. Die eine Parallele, könnte man sagen, wäre das Märchen. Das Märchen funktioniert ja heute auch immer noch. Bestimmte Handlungsschritte, wenn man die nur einhält, und mit anderen Personen ausführt, dann funktioniert das auch. Und bei Jules Verne – das etwas mechanische fällt schon auf. Es kann negativ auffallen, aber wenn man auf die eine oder andere Art praktiziert in diesem Beruf, ist es eine sehr lehrreiche Angelegenheit. Ich denke, die Plots sind wirklich wie Uhrwerke aufgebaut, und die laufen dann ab. Dann kommt immer eine Überraschung, eine erwartbare Überraschung, auch der Ausgang der Überraschung ist einigermaßen erwartbar, aber immer so, dass es noch interessant bleibt. Manchmal steht es vielleicht auf der Kippe. Auch die Figuren, Phileas Fogg zum Beispiel, sind wie Mechanismen oder wie Apparate manchmal aufgestellt, und er funktioniert ja selber wie ein Uhrwerk. Nicht nur, dass er andauernd auf die Uhr guckt, er ist auch ein toller Inbegriff von einem zwanghaften neuen Menschen, der unter dem Diktat der Zeit steht. Er ist natürlich ein Exzentriker in seiner Zeit, aber in heutiger Sicht ist er eigentlich ein Prototyp für uns heute. Als ein Mensch, der nur auf die Zeit achtet, und dass er alles unterbringt und sich möglichst wenig um das, was vielleicht am Rande passiert kümmert – so wie wir oft beruflich eingespannt sind, dass wir nicht nachts rechts und nicht nach links gucken und nur daran denken, dass wir unser Ding durchziehen. Wirklich ein sehr moderner Typ, dieser Phileas Fogg.

Aber mechanisch ist auch noch etwas anderes, ich hatte es ja schon gesagt: das Spiel ist sehr wichtig, und Spiele folgen einer gewissen Mechanik. Oft sind sie zirkulär, sie gehen um etwas herum, Monopoly etwas, dann erlebt man was und fällt in ein Loch und kommt wieder heraus und gewinnt Vorsprung. Da entseht eine interessante Mechanik, die auch Spannung enthält. In diesem Sinne sind bei Jules Verne auch bestimmte Grundideen einfach klasse. Da gibt’s die Geschichte über den Chinesen, „Die Leiden eines Chinesen in China“, der setzt auch einen Mechanismus in Bewegung. Ein ganz reicher Chinese, der eine Versicherung hat und der eines Tages erfährt, dass er todkrank ist. Aber die Versicherung wird nur ausgezahlt, wenn er rechtzeitig, vor einem bestimmten Stichtag, stirbt. In den nächsten vier Wochen. Da er sowieso bald sterben wird, beschließt er, einen Mörder auf sich anzusetzen, Selbstmord zählt nicht, klar, damit das Geld dann ausgezahlt wird an seine Verlobte. Und nun stellt sich heraus, kurz vor Ablauf der Frist, dass er gar nicht todkrank ist, sondern dass es eine Fehldiagnose war. Aber der Mörder ist jetzt unterwegs. Und damit ist auch der Mechanismus in Gang gesetzt, und jetzt ist er auf der Flucht vor seinem eigenen Befehl. Und wie schafft er das jetzt! Es geht ja auch immer um Haaresbreite. Bei Phileas Fogg geht es bekanntlich nur um Haaresbreite. Oder mit dem Ballon in Afrika, da ist auch immer ein wahnsinniger Druck, der immer stärker zunimmt gegen Ende, das Gas ist weg und so weiter – es ist wie bei den „80 Tagen“, da wird am Ende das Schiff aufgefressen von der Geschwindigkeit, und hier ist es der Ballon, erst schmeißen sie das Wasser raus, alles Ballaststoff, auch die Lebensmittel, dann springt der Diener raus, den holen sie dann wieder rein, dann wird die Gondel abgemacht, und am Ende ist es nur noch so ein Fetzen, der sie dann nach Westafrika an die Küste trägt. In letzter Minute noch gerettet vor den Bösen, ja, die heißen sogar „Taliba“. Und die Franzosen retten schließlich die britischen Ballonfahrer. Aber eben immer erst den letzten Drücker. Das ist wieder dieser Mechanismus, die Uhr wird immer schneller am Ende.

Was mir jetzt noch einfällt, was Jules Verne auch sehr aktuell macht, auch in einem Buch wie „Die Reise zum Mond“ – es ist übrigens teilweise sehr prophetisch, dieses Buch. Die Abschussrampe ist in Florida, auf einer Halbinsel, so, wie es dann ja auch geworden ist. Und dann gibt es einen Streit zwischen Florida und Texas, wer jetzt schießen darf mit der Riesenkanone, und den gibt’s ja auch heute, deswegen ist ja Houston immer die Zentrale. Sogar die Namen der fünf Flieger – wenn man da ein bisschen mit den Anagrammen spielt, kommt man auf die Namen der wirklichen Astronauten. Das ist schon ziemlich verrückt. Aber, worauf ich hinauswollte, was sehr wichtig ist und in vielen Werken zu finden, das ist die Bedeutung der Medien. Bei all diesen Aktionen spielen immer Zeitungen und Telegrafie eine sehr große Rolle, der ganze Globus berichtet. Und da ist er ja wirklich sehr nah an unserer Zeit. Die Bedeutung der Nachrichten, die Geschwindigkeit der Nachrichten, und wie die Nachrichten dann auch wieder Einfluss haben auf die Ereignisse.

Ich sehe ja Phileas Fogg auch als Paradebeispiel eines Medienkonsumenten. Er ist ja ein Stubenhocker ohnegleichen, er wechselt immer nur zwischen dem Salon bei sich zu Hause und dem Salon im Club hin und her, aber er weiß über die ganze Welt Bescheid, der er liest Zeitung. Und auch die Berechnung der 80 Tage, die ihn dann zu der Wette anstiftet, geht ja auf solche Zeitungsinformationen zurück. Und er hat dann auch das naive Zutrauen aller Medienkonsumenten zur Verlässlichkeit ihrer Informationen, er weigert sich, zwischen das vermittelte Bild der Wirklichkeit und die Wirklichkeit einen Keil treiben zu lassen. Er hat einen dicken Fahrplan unter dem Arm klemmen, das ist für ihn die Realität selbst, er weigert sich, da einen Unterschied zu machen. Er interessiert sich ja auch nicht für die Länder, durch die er kommt, er bleibt an Bord, er schickt seinen Diener, die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, er sitzt in seinem Gehäuse, da will er nicht raus.

Ja, er ist, wie Nemo, eigentlich die ganze Zeit unter Wasser. Er schwimmt durch die ganze Welt, ohne irgendetwas davon mitzukriegen.

Er wird ein Stückchen rausgeschleudert, und durch das Loch im Panzer dringt dann die Wirklichkeit in Gestalt seiner künftigen Ehefrau zu ihm vor. Das ist dann auch das Stück Vermenschlichung, das diese „Maschine“, dieses aufgezogene Uhrwerk gewinnt oder das ihr widerfährt und das er es ermöglicht, dass er dann diese Beziehung , diese Liebesbeziehung eingehen kann zu Miss Aouda. Aber eigentlich ist es sein Ideal, im Sessel zu sitzen und zuzugucken, was sich in der Welt abspielt. Und ob er in die Zeitung guckt oder ins Netz guckt, das ist zweitrangig.

Wie bei Hegel, der mal gefragt wurde, was ist denn, wenn die Tatsachen nicht mit dem Weltgeist übereinstimmen, und der dann gesagt hat: Desto schlimmer für die Tatsachen!

Genau! Deshalb hat Jules Verne das so eingefädelt, dass die ganze Verfolgung durch Detective Fix ja auf einer Personenbeschreibung beruht – auch der verwechselt das Bild mit der Sache, auch für ihn hat die Realität keine Chance, sich gegen ihre (vermeintliche) Beschreibung zu behaupten.

Das ist, wovon ich vorhin schon mal sprach, das satirische Element. Jules Verne war sich schon dies Diskrepanz bewusst, und ich finde, das sind deutlich satirische Seiten, wenn er über die Medien und diesen Hype schreibt. Er hat einen anderen Roman geschrieben, „Das Schloss in den Karpaten“, in dem das Medium der Illusionsherstellung dient. Da ist ein Graf, völlig in sich versunken, so eine romantisch-melancholische Existenz, der hatte sich mal in eine Sängerin verliebt, und die ist vor ihm auf der Bühne hingesunken und gestorben. Und seitdem verlässt ihm dieses Bild nicht mehr, und er baut einen Holographen, ein Bild mit Musik, Kino, bevor dieses erfunden war, und jeden Abend guckt er sich die phantastische Sängerin, ihre mediale Auferstehung mit Gesang in seinem Schloss in den Karpaten an. Die Dorfbewohner denken, das ist irgendeine Geistershow, die da abläuft. Das ist in der Tat eine frühe Form des Fernsehens, jenes Phantombild, das wir uns heute täglich in die Wohnzimmer holen. Also auch wieder das Medium, auf das die Leute fixiert sind. Vielleicht heißt Detective Fix ja auch deshalb so, nicht nur wegen der Schnelle, sondern auch, weil er fixiert ist, fixiert auf dieses Bild.

Eine letzte, persönliche Frage. Sie sind Anglist hier in Leipzig, Jules Verne befindet sich auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Wie sind Sie denn da rübergekommen zu Jules Verne?

Ja, eigentlich in meiner Jugend gar nicht so stark. Alsich so um die vierzehn herum war, da hat der Verlag Bärmeyer & Nikel, ich komme ja aus dem Westen, so eine große Ausgabe, keine Gesamtausgabe, aber sehr umfangreich /3/, herausgebracht. Ich habe wenig gelesen davon, vielleicht ein, zwei Titel, aber mich haben die Bilder fasziniert, die alten Holzstiche darin. Die haben mich später an Max Ernst erinnert, diese seltsam verfremdete bürgerliche Welt, über die Walter Benjamin geschrieben hat. Eine Art Urgeschichte unserer modernen Gegenwart auf diesen Bildern, die, wie ich finde, deshalb auch ein wichtiger Bestandteil dieser Ausgaben sind. Phantome fast aus der Vergangenheit, mit der wir uns immer noch beschäftigen, so sind wir Nachfahren des 19. Jahrhunderts, unserer Ursprungszeit, als die Medien vorgeprägt wurden, mit denen wir uns heute immer noch beschäftigen. Ich habe Romanistik studiert, aber als ich dann zur Anglistik gekommen bin, wollte ich einen Zugang zum Französischen behalten und habe mich dann für Balzac und Jules Verne entschieden, dass ich die einfach lese, im Urlaub, als Erholung und um mein Französisch frisch zu halten. Und da habe ich bei Jules Verne auch ein paar erstaunliche Dinge entdeckt. Im Englischen habe ich mich lange mit H. G. Wells beschäftigt, der sozusagen das Gegenstück bildet, und so habe ich die beiden parallel gelesen. Jules Verne hat ja von Wells nicht so viel gehalten, er meinte, der erfinde bloß. Wells hat auch ein Mondbuch geschrieben, da wird gereist mit Antischwerkraft-Metall, das gefiel Jules Verne überhaupt nicht, für ihn musste es irgendwie technisch auch machbar sein. Mit seinem Raketen-Hochschießen ist er jedenfalls nahe an der Realität geblieben.

Es gibt natürlich auch ein paar Unmöglichkeiten in seinen Romanen, zum Beispiel „Der Schuss am Kilimandscharo“/4/: Da haben die Amerikaner bei einer Versteigerung den Nordpol gekauft, und sie haben sofort die Vorstellung, dass man den jetzt begrünen muss, um da Geld rauszuschlagen, und zu diesem Zwecke bauen sie eine riesige Kanone am Kilimandscharo, damit die Erde aus der Achse rauskippt, wodurch die Polargegend dann warm werden soll. Das ist natürlich technisch ziemlich daneben, vermute ich, aber dass man sich mit solchen Großprojekten beschäftigt, das ist wiederum interessant, denn die gab’s ja immer wieder und die wird’s ja auch immer wieder geben, also diese Riesenstaudämme, die ein Ökosystem völlig umwerfen, ganze Landstriche verwüsten, diese weißen Elefanten in der Technik. Sibirien begrünen und dergleichen. Also, da war er auch wieder nahe am 20. Jahrhundert. Ernst Bloch stellte sich zum Beispiel vor, dass man Grönland durch Atomkraft aufblühen lassen könnte. Und dann die Amerikaner bei Verne! Die aufstrebende Nation in seinen Büchern, mit Sympathie, aber auch mit einem gewissen Horror gezeichnet, dieses Vor-nichts-Zurückschrecken und alles tun, was nur machbar ist.

Elmar Schenkel, geboren 1953 bei Soest/Westf., lebt seit 1993 in Leipzig als Anglist, Schriftsteller und Übersetzer. Er veröffentlichte unter anderem Reisetagebücher über Japan, die USA und Indien, den Roman „Der westfälische Bogenschütze“, die Prosabände „Leipziger Passagen“ und „Mauerrisse“, sowie Bücher über J. C. Powys, J. R. R. Tolkien, H. G. Wells und die britische Lyrik. Essaybände: „Sportliche Faulheit“, „Der aufgefangene Fall“ und „Die Elixiere der Schrift – Alchemie und Literatur“. Soeben erschienen: „Die elektrische Himmelsleiter – Exzentriker in den Wissenschaften“.

(Zitatende)

Bemerkungen vom Herausgeber dieser WEB-Seite:

/1/ gemeint ist das Ausströmen von reinem Sauerstoff (Oxygenium), der auch Pate bei der Namensgebung stand

/2/ Diese Bände wurden von Vernes Sohn Michel geschrieben

/3/ Diese 20bändige Ausgabe von Bärmeier & Nikel bestach durch eine interessante Auswahl von Romanen, war aber durch seine gewissenlosen Kürzungen der Originaltexte in Kritik geraten

/4/ Der Originaltitel lautet: Sans dessus dessous, aus dessen Wortspiel sich im deutschen Kein Durcheinander als gängigster Titel durchgesetzt hat. Der Schuß am Kilimandscharo deutet darauf hin, das der Befragte diesen Titel wahrscheinlich nicht vom Original, sondern von der oben zitierten Bärmeier & Nikel Edition in Erinnerung hat.


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