Collection Fehrmann

Jules Vernes „Voyages extraordinaires"

- Band VE 27: Mathias Sandorf – Detailsseite 2: Sandorfs Flucht aus dem Kastell -

Die Flucht aus dem Kastell von Pisino (Kaštel Pazin)





Schauplätze der Literatur

Die kleinformatigen Illustrationen von L. Benett sind alten franz. Ausgabe entnommen, sie wurden allerdings  für diese Darstellung beschnitten

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Kastell Pisino / PazinNachfolgend möchte ich euch Details zur Flucht Sandorfs aus dem Kastell von Pisino vorstellen. Pisino ist die italienische Bezeichnung des istrischen Ortes Pazin, deutschsprachig auch unter Mitterburg bekannt. Während viele Orte der Literatur ziemlich fiktiv sind, ist es sehr auffallend, dass sich Vernes Schauplatz Pazin (ich bleibe bei der kroatischen Schreibweise) buchstäblich in der Praxis erforschen lässt. So habe ich Bilder der Erstausgabe Vernes (illustriert durch L. Benett) den Bildern der Originalschauplätze gegenübergestellt. Um die Augenscheinlichkeit noch zu erhöhen, stelle ich Originalzitate des Buches als Erläuterung in Blau und kursiv dar.

Es gibt zwei Hinweise auf die Ursachen der Detailtreue, denn Verne hat diesen Teil der Adria (obwohl er auch in Italien war) nicht persönlich in Augenschein genommen. In einer Tourismusinformation aus Pazin ist zu lesen, dass eine Grundlage die Beschreibung der Höhle unter Pazin und des Kastells durch die Veröffentlichungen des französischen Reiseschriftstellers Charles Yriarte waren. Der Jules Verne Club Pazin vermutet weiterhin eine umfangreiche Korrespondenz Vernes mit dem damaligen Bürgermeister von Pazin, Guisepe Cech. Die Paziner sind aufgerufen, alte Unterlagen und Archive zu durchforsten, um diesen Nachweis zu erbringen.

Verfolgen wir also den Handlungsfaden: Die drei Gefangenen kommen via Buje von Triest (kroatisch: Trst) nach Pazin. „Der Weg führte über ein vom Monte Maggiore überragtes, sehr unebenes, steiles Gelände bergab bis Pisino. Obwohl diese Stadt ziemlich hoch über dem Meeresspiegel lag, erweckte sie, von Bergen umgeben, den Eindruck, in einer tiefen Talsenke verborgen zu sein. Aus der Ferne schon grüßte den Reisenden ihr hoher Glockenturm, der sich über den malerisch terassenförmig gelegenen Häusern erhob. Im Hof der Burg, in der die österreichische Verwaltung untergebracht war, hielt die Postkutsche am 9. Juni ....“ Von den Bergen kommend kann man wirklich in die Stadt hineinsehen. Im Vordergrund ist das Kastell, welches bereits im Jahre 983 als CASTRUM PISINUM urkundlich erwähnt wurde, zu erkennen. Dahinter befindet sich der Glockenturm der Kirche (separat vom Kirchenschiff). Das Kastell ist ein eindrucksvolles, gut erhaltenes architektonisches Kleinod. Erst wenn man in unmittelbarer Nähe ist, erkennt man, dass es auf einem in der Stadt liegenden Plateau errichtet ist, welches aus Schutzgründen von einem hohen Wall umgeben ist.

CREDITS / Dankeschön: An dieser Stelle danke ich Davor Šišovic für die sachkundige Führung durch seine Heimatstadt und dem Kastell Pazin.


/1/ Alle Fotos dieser Seite © Fehrmann 8/2001
Das KastellBlick aus dem KastellLinks im Bild sichtbar ist eine der Außenmauern, die die Eingangsseite umfassen. Diese beinhalten auch die im Buch angesprochenen Verhandlungsräume. „Am 25. Juni fand sich der Kriegsgerichtshof in einem der niedrigen Säle der Festung Pisino zur Verhandlung ein.“ In dieser Bauweise sind auch die Türme ausgeführt, die zur Seite des Tales, welches durch den Fluss geschaffen wurde, zeigen. Rechts im Bild ein Blick aus den Innenräumen. Erkennbar ist ein Teil der Wallanlagen, vorgelagerte Wachtürme und die sich am Horizont auftürmenden Berge, denn Pazin liegt in einem Talkessel. Diese Ansicht ist etwas ungewohnt, denn meist liegen Burganlagen auf dem höchsten Niveau einer Region.

Nach der Verhandlung, in der unsere Freunde zum Tode verurteilt wurden, „wurde ihnen gestattet, die letzten Stunden ihres Lebens gemeinsam in einer ziemlich geräumigen Zelle des gleichen Stockwerks zu verbringen, die am Ende der großen Achse der Ellipse, die den Korridor bildete, lag.“ Durch eine Besonderheit der Akustik konnten die Gefangenen Mathias Sandorf, Ladislaus Szathmáry und Stefan Báthory erfahren, wer die Verräter ihrer Sache waren. Jetzt wollten sie nicht mehr ihren Tod in Kauf nehmen, jetzt galt es die Verräter ihrer gerechten Strafe zuzuführen – dazu musste man aber fliehen!

/2/ Jules Verne: Mathias Sandorf; Hetzel et Cie; Paris 1885; Bildzitat von Seite 104; CF /2715/

/3/ Das Original heisst: PARENZO E FASANA und es wurde von C. Yriarte geschaffen. Veröffentlicht in: L´Istrie et la Dalmatie 1874. Bildregistratur CF /21280/, gefunden auf Seite 748 der Zeitschrift  ILLUSTRAZIONE POPOLARE GIONALE  PER  LE FAMIGLIE, Milano 24 Novembre 1907 / Mailand Italien, 24. November 1907, Nr. 47; CF /6701/

Pazin Foiba OriginalAn dieser Stelle muss ich eine geologisch / geografische Besonderheit erläutern. Durch Pazin fließt der Fluss Pazincica, im Buch mit dem italienischen Sammelbegriff Foiba belegt. Der Fluss endet in der Schlucht unterhalb des Kastells als Oberflächenlauf und er verschwindet in einer unterirdischen Höhle, die Pazinska jama genannt wird. 130 Meter Höhendifferenz trennen die Mauern des Kastells vom in der Schlucht liegenden Fluss, dessen weiterer Verlauf noch heute ungeklärt ist. Die Pazincica ergießt sich in ein Labyrinth von unterirdischen Seen, die in regelmäßigen Abständen durch Hochwasser einen Rückstau bilden. Offensichtlich ist also nur ein enger Abfluss unterirdisch vorhanden. Stich links /2/

Die Originalvorlage FLUCHTDer Wachturm stand auf jener Seite der Terrasse, an der die Stadt ohne Übergang endete. Wenn man sich über die Brüstung beugte, verlor sich der Blick in einem gähnenden Abgrund. Seine senkrechten Wände waren von einem Gewirr langer Ranken bedeckt. Hier gab es keinen Vorsprung, keine Stufe, auf die man den Fuß setzen, keine Stelle, wo man Atem schöpfen konnte, keinen Stützpunkt, nichts. Nur das eigenwillige, täuschende Strauchwerk an der steilen Felswand, über einem Abgrund, dessen Tiefe zieht und lockt und nie hergibt, was sie einmal verschlungen hat.

Pazin Foiba vor Verne 1874Über diesen Abgrund ragt eine Seitenmauer des Wachturms, von einigen wenigen Fenstern durchbrochen. Würde ein Gefangener sich aus diesem Fenster hinausbeugen, dann würde er entweder voll Angst zurückweichen oder, von einem jähen Schwindel erfasst, in die Tiefe stürzen. Sein Körper würde an den Felsen zerschellen und von dem reißenden Strom erfasst werden, dem zur Zeit des Hochwassers niemand wiederstehen kann.

Die Einheimischen nennen diesen Abgrund Buco. In ihn mündet die Foiba, die sich im Laufe der Zeit ein Bett durch den Felsen gegraben hat. Niemand kannte das Ziel der unterirdischen Gewässer, niemand wusste, an welcher Stelle sie wieder an die Oberfläche gelangten.

Der Abgrund im Original vor OrtDiese Schilderung spiegelt genau den oben von mir vorgestellten Sachstand und das rechts von mir über die Brüstung fotografierte Bild kann keine bessere Illustration für die von Verne gegebene Beschreibung des Abgrundes sein. 

Ergänzend zum obigen Stich L Bennetts, verwendet in der Hetzelausgabe des Verne-Romans, habe ich links die bekannteste bildliche Wiedergabe dieses Ortes dargestellt. Es ist eine 1874 erschienene Darstellung des in Frnakreich sehr populären C. Yriarte /3/.

Trotz der abschreckenden Bedingungen gelingt es Mathias Sandorf und Stefan Báthory sich aus dem Fenster zu schwingen und am Blitzableiter die Zelle zu verlassen. Der Dritte wird von den Wächtern an der Flucht gehindert.

Die Flucht geht zeitlich einher mit einem schrecklichen Unwetter, welches den Bach in der Schlucht zu einem reißenden Fluss werden lässt. Noch während die Beiden den Abstieg am Blitzableiter wagen, schlägt in der Nähe ein Blitz ein und Stefan stürzt die letzten Meter an Mathias vorbei in den Abgrund. Abwärts gleitend lässt auch er das Kabel los und er versucht seinen Kameraden im reißenden Fluss zu finden. In den Strudeln des Flusses gelingt es ihm den fast ohnmächtigen Kameraden im Wasser zu retten.

KArtenausschnitt der Fluchtroute

Eine Detaildarstellung der Wege Sandorfs in Istrien ist auf meiner Seite  Sandorfs Route durch Istrien dargestellt 

LimDie Beiden werden mit voller Gewalt in den unterirdischen Fluss gezogen. Dabei gelingt es Sandorf sich an einen im Wasser treibenden Baumstamm zu klammern. Auch Báthory kann er auf den Stamm ziehen. Bald bemerkt er, dass die Höhle so flach ist, dass er mit der Hand die vorbeigleitende Höhlendecke anfassen kann. Panik macht sich breit: Wird der Schlund immer enger?

Nach langer Irrfahrt durch den finsteren Schlund der Höhle, endet die Dunkelheit und ein sichtbarer Flusslauf ist zu erkennen. Das Wasser hat wieder einen Oberflächenlauf! „Inzwischen wurden die hohen Felswände, die die Foiba umgaben, niedriger und wichen immer mehr zurück. Trotzdem wurde das Blickfeld durch scharfe Biegungen auf wenige hundert Fuß eingeengt, und man konnte sich nicht zurechtfinden, geschweige denn erkennen, wo man sich befand. ..... Er wusste nicht, dass sich die Foiba weder in eine Lagune noch in einen See ergoss, sondern, als Lemo-Kanal bezeichnet, direkt in die Adria, und zwar an der Westküste Istriens.“

Auch diese Lokalität gibt es. Es handelt sich um den Lim-Fjord (italienisch: Canon di Lema, kroatisch: Limski zaljev).

Dieser ist, wie alle Fjorde, ein enger Einschnitt des Meeres in die Landmasse, aber kein Flusslauf. Der Lim-Fjord ist zirka zehn Kilometer lang. Trotz der naheliegenden Idee, dass er eine Flussmündung ist, ist dies aber ein Trugschluss Vernes gewesen. Aber da ja der Verlauf der Foiba (Pazincica) selbst noch heute ungeklärt ist, muss man ja die schriftstellerische Freiheit haben, im Roman eine Lösung zu finden!

Das auf meinem Foto links dargestellte Ende des Fjordes (ganz links im Bild) hat einen kleinen Strand und dahinter befindet sich zur Landseite ein Parkplatz für Besucher. Also auch im Frühjahr oder nach Regenfällen, ist dort nicht mit einem Einfließen von Wasser zu rechnen. Davon ich ich mich persönlich überzeugt (ich hätte so gern wenigstens einen eingetrockneten Wasserlauf gefunden!) Nach rechts führt der Wasserweg zur Adria, der sich so wie in diesem Bild zu sehen ist, malerisch zum Meer hin auftut (Blick von der Seeseite in den Lim-Fjord).

Der Fluchtweg der nach sechsstündigen Treiben auf dem Baumstamm im Lim-Fjord endete, wurde dann zu Fuß weiter geführt. Unter ständiger Verfolgung von Polizeipatrouillien konnten sie beim Fischer Andreas Ferrato in Rovinj (italienisch: Rovigno) Unterschlupf finden. Dort wurden sie durch den Verräter Carpena von einer Polizeistreife gestellt. Bei der Flucht in Richtung Meer wurde Báthory verwundet und er musste sich stellen, damit Sandorf seine Mission zu Ende führen konnte. Aber die Polizisten verfolgten Sandorf bis zum Meer und konnten auf den Fliehenden mehrere Schüsse abgeben, so dass dieser in den Fluten versank....

Und spätestens an dieser Stelle müsst ihr wieder zum Buch greifen!

Durch den Jules Verne Club Pazin werden alljährlich im Sommer die Jules Verne Tage organisiert. Im Juni 2001 wurde aus diesem Anlass die Flucht vom Kastell bis zur Küste von Laienschauspielern nachgestaltet. Unter reger Anteilnahme der zahlreichen Besucher (die der Route zu Fuss, per Rad und per Schiff folgten) konnte so ein Stück Literatur lebendig gemacht werden. Einen Link zum Club findet ihr auf meiner LINKSEITE.

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Copyright © Andreas Fehrmann – 08/01, letzte Aktualisierung 8. Januar 2017