Zuhause bei Jules Verne

Ein Interview des Schriftstellers 1903




Beispiel T.P's
/23/
Es gibt nur eine handvoll authentische und aussagekräftige Interwiews mit Jules Verne. Sehr aussagestark sind die Interviews die Robert H. Sherard mit Verne führte. Link Das erste Inverview von 1893 ist hier zu finden. Das Ergebnis eines weiteren Besuches 1903 gebe ich hier auf dieser Seite wieder. Es wurde in der amerikanischen Wochenzeitschrift  T. P's Weekly erstveröffentlicht. Siehe dazu die Fußnote [1]. Der originale Titel des Artikels hatte den Namen: JULES VERNE RE-VISITED (siehe unten /22/)
re_visited

Leider bin ich nicht im Besitz des Originaltextes der Erstpublikation. Daher habe ich den Artikel um passfähige Bilder aus meinem Archiv ergänzt. Siehe dazu die Quellenangaben in den Schrägstrichen. Dementsprechend sind auch die Bilderläuterungen von mir kreiert worden. Die unten im Text verwendeten Hervorhebungen und Fussnoten basieren auf der Ausarbeitung des Übersetzers Meiko Richert, seine Fußnoten sind in eckigen Klammern gesetzt.
Die Genehmigung zur Nachnutzung der Übersetzung erhielt ich dankenswerter Weise mit Schreiben vom 1. September 2023



Fußnoten des Übersetzers Meiko Richert:

[1] Das Interview erschien am 9. Oktober 1903 in T.P’s Weekly. Ein früheres Gespräch zwischen Sherard und Verne erschien im Januar 1894 (und zuvor schon im Juni/Juli 1893 in verschiedenen amerikanischen Zeitungen) unter dem Titel "Jules Verne at home" im McClure’s Magazine (deutsch von Volker Dehs: „Der große Verdruss meines Lebens“ in Das Jules Verne Handbuch)

[2] Grauer Star; Trübung der Augenlinse

[3] Elizabeth Jane Cochran (1864–1922) war eine amerikanische Journalistin und reiste1889/1890 in 72 Tagen um die Welt. 1890 erschien ihr Reisebericht Round the World with Nellie Bly. Sherard diente ihr in Amiens als Begleiter und Übersetzter. Sein letzter BEsuch bei Verne lag tatsächlich zehn Jahre zurück (vgl. Fußnote [1])

[4] Französisch: wohlhabend, stattlich

[5] Bourses de voyage (1903), dt. Reisestipendien (1904)

[6] Französisch: Ich habe viel im Voraus (gearbeitet)

[7] Französisch: Ich weiß es nicht

[8] Un drame en Livonie (1904), dt. Ein Drama in Livland (1905)

[9] Französisch: Ich dachte mir, dass Sie mich das fragen würden

[10] Französisch: Das ist sehr nett

[11] Französisch: (Da besteht) Kein Zusammenhang

[12] Französisch: Aber doch

[13] Französisch: Aber nein

[14] Französisch: (glückliche) Entdeckung

[15] Französisch: Nebel

[16] Französisch: Krimskrams

[17] Französisch: der amerikanische Bericht. Sowohl die investigative Reportage (etwa Nelly Blys Berichte über die Situation der psychiatrischen Anstalten für Frauen in New York) als auch die Interviews sind Formen des Journalismus, die Europa von den USA übernommen hat.

[18] Möglicherweise hat Sherard Verne an dieser Stelle falsch zitiert, denn französische Übersetzungen seiner französischen Texte sind wohl kaum anzunehmen.

[19] Englischer Schriftsteller (1828-1909)

[20] Laurence Sterne, englischer Schriftsteller (1713-1768)

[21] Französisch: … die man gar nicht alle bewältigen kann


Meine Quellenangaben und Anmerkungen:

/22/ Detail eines Faksimiles des Artikels aus T.P's Weekly v. 9. Oktiber 1903; Band 2, Seite 598

/23/ Beispieltitelei vom 9. Januar 1903 des Magazins T.P's Weekly

/24/ Foto © Fehrmann 2021

/25/ Ausschnitt aus einem Stich von 1902, Original aus Le Monde Illustre, Paris, Heft Nummer 2505 vom 1. April 1905; CF /6812/

/26/ Jules Verne: Un Drame en Livonie; Collection Hetzel Paris; 1904; CF /5206/

/27/ Gemälde der Jacht Saint Michel III, heute im Museum Jules Verne in Amiens

/28/
in diversen Quellen recherchiert
und von mir aufbereitet




Über den Autor des Interviews - Robert H. Sherard (1861 – 1943)

Sherard

Robert Harborough Sherard, meist nur Robert H. Sherard genannt, wurde am 3. Dezember 1861 in Putney / London geboren. Er starb mit 81 Jahren am 30. Januar 1943 in Ealing, im Westen Londons. Er galt als ein bekannter Journalist und Schriftsteller der damaligen Zeit. Durch seine Freundschaft mit Oscar Wilde wurde er sein bekanntester Biograf. Unterstützt durch seine französischen Sprachkenntnisse reiste und lebte er längere Zeit in Frankreich. Dort übernahm er u.a. auch die Aufgabe als Pariser Korrespondent der amerikanischen Zeitung THE WORLD aus New York. In dessen Auftrag besuchte er zusammen mit Nellie Bly das erste Mal Jules Verne in Amiens. /28/



Für die Recherche von weiteren Personen im Umfeld von Jules Verne empfehle ich das Link Personenregister dieser Domain.

Noch einmal bei Jules Verne
[1]

Robert H. Sherard

Aus dem Englischen von Meiko Richert

Während des letzten Monats haben böse, immer wiederkehrende Gerüchte die weltweite Anhängerschaft Jules Vernes erschreckt. Er soll vollständig erblindet sein. Obgleich er ein sehr, sehr alter Mann ist, wissen wir, dass er für seine Arbeit lebt, und so schien der Anteil, den man an den Umständen nahm, groß zu sein.

JV WohnungLassen Sie mich daher gleich sagen, dass die Dinge nicht so schlecht für ihn stehen, wie man fürchtete. Wenn er auch ein Auge vollkommen verloren hat, so kann er doch noch ein wenig mit dem anderen sehen.


Bild rechts: Das ehemalige Haus von Jules Verne am Boulevard de Loungueville 44, dem heutigen Boulevard Jules Verne. Aufnahme 2021 /24/

„Es ist ein Katarakt[2] in meinem rechten Auge“, sagte er heute Morgen im Salon seines Hauses, Boulevard de Longueville 44, im grauen und flachen Amiens zu mir. „Aber das andere Auge ist noch recht gut. Ich möchte keine Operation riskieren, solange ich noch genug sehen kann, um ein wenig zu arbeiten, ein wenig zu schreiben, ein wenig zu lesen, denn immerhin, mein Herr, bin ich jetzt ein sehr alter Mann, über sechsundsiebzig. Seit sich die Nachricht von meiner Erblindung verbreitet hat, ist das Mitgefühl der Welt erwacht. Ich habe zahllose Briefe von überall herbekommen. Viele Leute haben mir Rezepte gegen den Katarakt geschickt, wunderbare Heilmittel. Sie raten mir, keinerlei Operation zuzulassen, da mich ihre Wundermittel ohne Gefahr heilen werden. Das ist sehr nett von ihnen. Es hat mich sehr berührt, doch ich weiß natürlich, dass eine Operation das einzige Heilmittel ist.“

Ein angenehmes Zuhause

JV 1902Ich habe Jules Verne seit fast vierzehn Jahren nicht mehr gesehen. Das letzte Mal war ich bei ihm, als ich Nelly Bly[3] während ihrer berühmten, rekordverdächtigen Tour um die Welt mit in sein Haus brachte. (Anmerkung A.F.: siehe dazu meinen Artikel Link Nellie Bly, die mutige Reporterin - Die Reise um die Erde in 72 Tagen) Doch er war nicht so sehr gealtert, wie ich befürchtet hatte. In seinem schwarzen Alpakaanzug sah er rund und zufrieden aus, und sein hübsches, von weißem Haar und Bart eingerahmtes Gesicht war sowohl gelassen als auch lebhaft. Die schönen Augen verrieten in ihrem Ausdruck in keiner Weise den lauernden Schalk.

Er lebt jetzt in einem kleineren Haus, doch es ist opulent und cossu[4] und bietet ihm ein angenehmes Zuhause. Wann immer er in unserem Gespräch eine Niederlage vor den Umständen und dem unvermeidlichen Gesetz der Natur zugab, beeilte er sich, mit der ihm eigenen Heiterkeit einen Ausgleich dafür zu finden.


Bild links: Jules Verne in einem Stich von 1902 /25/



Den Verlegern um Jahre voraus

„Obwohl ich jetzt sehr wenig arbeiten kann – schrecklich wenig, verglichen mit früheren Tagen –, bin ich der Druckerpresse um Jahre voraus. Mein neuestes Buch aus der Reihe der Außergewöhnlichen Reisen steht kurz vor der Veröffentlichung; es heißt Bourse de Voyage[5] – und aus der gleichen Reihe sind noch dreizehn vollständige Manuskripte druckfertig. Wie Sie wissen, veröffentliche ich zwei Bände pro Jahr, die zuerst in Fortsetzungen im Magasin de Récréation erscheinen, von dem ich einer der Gründer war. Ich arbeite jetzt an meiner neuen Geschichte, die von den Druckern nicht vor 1910 verlangt wird. J’ai beaucoup d’avance[6], und daher macht es nichts, dass ich langsam arbeiten muss, sehr langsam. Ich stehe meist um sechs Uhr morgens auf und bin bis elf Uhr am Schreibtisch. Am Nachmittag gehe ich wie immer zum Lesesaal der Société Industrielle und lese so viel, wie mir meine Augen gestatten.“

Geschichten sind da, doch die Titel lassen sich Zeit

Frontispiz Livland„Ich kann nicht sagen, wie der Titel des Buches lautet, das ich derzeit schreibe. Je n’en sais rien[7]. Ich habe auch keine Titel für die dreizehn anderen Geschichten, die noch auf ihre Veröffentlichung warten. Alles, was ich über dieses Werk sagen kann, ist, dass es um Un Drame en Livonée[8] geht, und dass ich mich dort erstmals damit beschäftige … doch nein, das dürfen Sie nicht drucken, sonst könnte ein anderer Autor meine Idee stehlen.“ Es war unvermeidlich, wie Jules Verne anmerkte, mit ihm über H. G. Wells zu sprechen.

„Je pensais bien que vous alliez me demander cela[9], sagte er. „Seine Bücher wurden mir geschickt und ich habe sie gelesen. Sie sind sehr seltsam und – wie ich hinzufügen möchte – sehr englisch. Aber ich sehe keine Möglichkeit, seine und meine Arbeit zu vergleichen. Wir gehen nicht in der gleichen Weise vor. Es scheint mir, dass seine Geschichten auf nicht sehr wissenschaftlichen Grundlagen beruhen. Nein, es gibt keine Übereinstimmung zwischen seiner Arbeit und meiner. Ich nutze die Physik. Er erfindet. Ich reise in einer Kanonenkugel zum Mond, abgefeuert aus einer Kanone. Das ist keine Erfindung. Er reist in einem Luftschiff zum Mars, das er aus einem Material konstruiert, welches das Gravitationsgesetz aufhebt. Ça c’est très joli[10]“, rief Monsieur Verne aufgeregt, „doch zeigen Sie mir dieses Metall. Lassen Sie es ihn herstellen.“

Bild rechts oben: Frontispiz von Ein Drama in Livland von einer franz. Ausgabe von 1904 /26/

Fiktion als Tatsache

Es war ebenso unvermeidbar, auf die Tatsache zu verweisen, dass viele seiner literarischen Erfindungen zu wirklichen Erfindungen geworden sind. Hier stimmte mir die liebenswürdige Madame Verne zu. „Die Leute sind so freundlich, das zu sagen“, meinte Jules Verne. „Es ist schmeichelhaft, tatsächlich ist es aber nicht wahr.“
„Ach komm, Jules“, sagte Madame Verne. „Und deine U-Boote?“
Aucun rapport
[11], sagte Verne und winkte die Schmeichelei beiseite.
Mais si
[12].“
Mais non
[13]. Die Italiener hatten U-Boote schon sechzig Jahre bevor ich Nemo und sein Schiff erschuf. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen meinem Schiff und den jetzt existierenden. Letztere werden durch mechanische Mittel angetrieben. Mein Held Nemo, ein Misanthrop, der nichts mit dem Festland zu tun haben will, gewinnt seine Antriebskraft, die Elektrizität, aus dem Meer. Dafür gibt es eine wissenschaftliche Grundlage, denn das Meer enthält Lagerstätten elektrischer Energie, genau wie die Erde. Aber wie man an diese Kraft gelangt, ist nie entdeckt worden, und so habe ich nichts erfunden.“

Namen in der Literatur

Wir berührten das Thema der Bedeutung von Namen in der Literatur. „Ich schreibe ihnen eine gewisse Bedeutung zu“, sagte er, „und als mir ‚Fogg‘ einfiel, war ich sehr froh und stolz. Und er war sehr beliebt. Man betrachtete ihn als eine echte trouvaille[14]. Und doch, Fogg … Fogg bedeutet nichts als brouillard[15]. Es war aber vor allem Phileas, der der Schöpfung einen solchen Wert gab. Ja, in den Namen liegt eine Bedeutung. Sehen Sie sich die wunderbaren Geschöpfe Balzacs an.“

Wir hatten unser Gespräch in den reich ausgestatteten Wohnzimmern im Erdgeschoss begonnen, zwei Salons en suite mit dem Speisezimmer dahinter, während draußen ein sonnenbeschienener Garten voller Blumen lag. Opulente Räume mit schweren Samtvorhängen, großen Uhren und Spiegeln, lebensgroßen Portraits, venezianischem Glas und ausgesuchtestem bric-à-brac[106. Es war ganz natürlich, dass wir im Laufe der Zeit die beiden Treppenfluchten zu den Arbeitszimmern des Literaten hinaufstiegen.

Arbeitszimmer: Eines zum Lesen, wo sich der Großteil der Bibliothek befindet, eines zum Schreiben, wo der kleine Tisch steht und wo auch Feder und Tinte sind.

Kein Luxus

Alles sehr einfach hier. Kein Luxus. Landkarten an den Wänden, und im Schreibzimmer ein paar Bilder, darunter ein Aquarell der Saint Michel, der Yacht, auf der Jules Verne in den freien und sonnigen Tagen der ruhelosen Jugend die Gewässer der Welt durchstreifte.

Bild links unten: Gemälde der Jacht Saint Michel III /27/

Gemälde St. Michel IIIWir hatten gerade von le reportage Américain[17] gesprochen, und um beim Thema zu bleiben, bemerkte ich: „Das müssen wenigstens drei Meter sein!“ Er lachte herzlich und tat so, als messe er das Regal ab. „Oh ja“, sagte er, „ich habe wenigstens drei Meter geschrieben. Und schauen Sie sich diese meterlangen Übersetzungen an. Englisch, Französisch, Dänisch, Italienisch … alle Sprachen[18].“

Im Dämmerlicht des Innenraums steht am Fenster ein kleiner Kartentisch, auf dem fast alle Bücher geschrieben worden sind. Eine Granatenhülse auf der Fensterbank dient als Briefbeschwerer. Gleich hinter dem Sitz, neben der Wand, befindet sich ein Pfeifenständer. „Aber sie lassen mich jetzt nicht mehr rauchen“, sagte Jules Verne in dem Tonfall, in dem George Meredith[19]einst die gleichen Worte sprach.

„In diesem Zimmer sind die Lieblingsbücher, die Bücher, die man jederzeit zur Hand haben möchte. Dort können Sie den kompletten Dickens finden“, sagte Jules Verne mit Glut in der Stimme. „Wie Sie wissen, bin ich ein leidenschaftlicher Bewunderer von Dickens. Ich finde, er hat von allem etwas – den Verstand eines Sterne[20], von dem ich ein ebenso großer Leser und Verehrer bin, Pathos und ein Gefühl für die richtige Mischung, und Figuren, Figuren à ne pas savoir quoi en faire[21]. Ein Verschwender, ein Verschwender – er ist wie unser Balzac, der eine Welt erschuf, auf deren Grundlage die nachfolgende Gesellschaft sich selbst formte.“

Man war mit dem Gefühl des Mitleids gekommen; nun war es eher der Neid, mit dem man in die graue und einsame Welt hinaustrat. Denn dort hinter den Samtvorhängen, bei den irisverzierten Fenstern, die sich auf den sonnigen Garten voller Blumen öffneten, stand der Tisch, ordentlich vis-àvis gedeckt. Und neben dem Kamin, auf dessen Sims der rötlich-glänzende Samowar mit vertrauter Behaglichkeit schnurrte, standen Seite an Seite zwei Sessel.

 NACH OBEN - SEITENANFANG Nautilus 30Der obige Text wurde bereits in der NAUTILUS, dem Magazin des deutschsprachigen Jules-Verne-Clubs, in der Ausgabe Nummer 30 im April  2017 ab Seite 35 veröffentlicht. Die dortigen Illustrationen entsprechen nicht dem hier auf dieser Seite eingefügten Bildmaterial. Die hiesigen sind aus meinem Archiv.

Wer mehr zum Club und unseren Aktivitäten erfahren möchte, dem empfehle ich diesen externen Link:
Link Jules-Verne-Club

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Copyright © Andreas Fehrmann – 9/2023, letzte Aktualisierung 9. Oktober 2023