Zuhause bei Jules Verne Ein Interview des Schriftstellers 1893 |
![]() Titel
der Ausgabe /10/
|
![]() Die im Text eingebundenen Links, sind interne Verweise auf weiterführende Beiträge auf meiner Jules-Verne-Seite. Die unten genannten Fussnoten basieren auf der Ausarbeitung des Übersetzers Volker Dehs.Sie sind in eckigen Klammern gesetzt. Die Genehmigung zur Nachnutzung der Übersetzung erhielt ich dankenswerter Weise mit Schreiben vom Übersetzer am 5. September 2023. Weitere Angaben zur Veröffentlichung des deutschsprachigen Textes: siehe ganz unten |
Fußnoten
des Übersetzers Volker Dehs: [1]
Hector Malot (1830-1907) war ein Freund aus Jules
Vernes Zeit an der Börse. 1878 veröffentlichte er, ebenfalls bei
Hetzel. seinen
erfolgreichen sozialkritischen Jugendroman Heimatlos. [2]
Jules Claretie (1840-1913), frz. Literaturkritiker und
Romanautor. [3]
Victor Massé (1822-1884), Komponist von komischen
Opern; Léo Delibes (1836-1891) übernahm 1853 die Stelle des
Korrepetitors am
Lyrischen Theater, als Verne dort als Sekretär arbeitete. Heute noch
bekannt
für seine Ballette Sylvia und Coppelia. [4]
Emile Perrin (1814-1885) übernahm 1855 die Leitung des
Lyrischen Theaters und stand 1848- 1857 gleichzeitig der Opéra-Comique
vor.
Leitete ab 1871 die traditionsreiche Comédie francaise. [5]
Elisée Reclus (1830*1905), ehemaliger Anarchist und
Verfasser einer monumentalen Géographie Universelle (1878 -
1894) in
zwanzig Bänden. Jacques Arago (1799 - 1855) Veröffentlichte 1839- 1840
eine
dreibändige Reise um die Welt; arbeitete 1851 mit dem jungen
Verne an
dem verlorenen Theaterstück Die Gelehrten. [6]
Die Académie française vereinigt seit ihrer Gründung
1635 auf 42 verfügbaren Plätzen die jeweils „größten Geister“des
Landes, die
nach dem Tod eines ihrer Mitglieder in einem strengen Wahlverfahren
dessen
Nachfolger wählen. Eugène Labiche (1815-1888) verfasste sehr amüsante
Gesellschaftskomödien; seine berühmte Reise des Monsieur Perrichon
(1860)
persiflierte Verne 1896 mit Clovis Dardentor. Jules Sandeau
(1811-1883)
War ebenfalls Dramatiker. [7]
1893 fand in Chicago die neunte große Weltausstellung
statt. [8]
Etwa 50.000 DM. [9]
Etwa 20 bzw. 14 Millionen DM. Verne spricht hier vom
Erlös der Theaterfassungen beider Romane.
Meine
Quellenangaben und Anmerkungen:
/10/ Mc
Clure's Magazin; New York, Januar 1894; Ausgabe: Volume two /
Number two; Das Interview befindet sich auf den Seiten 115 bis 124; CF /7259/
/11/ ebenda, Seite 115 /12/ ebenda, Seite 116 /13/ ebenda, Seite 119 /14/ ebenda, Seite 122 /15/ ebenda, Seite 123 /16/ in diversen Quellen recherchiert und von mir aufbereitet Über den Autor des
Interviews - Robert H.
Sherard (1861 – 1943)
![]() Robert Harborough Sherard, meist nur Robert H. Sherard genannt, wurde am 3. Dezember 1861 in Putney / London geboren. Er starb mit 81 Jahren am 30. Januar 1943 in Ealing, im Westen Londons. Er galt als ein bekannter Journalist und Schriftsteller der damaligen Zeit. Durch seine Freundschaft mit Oscar Wilde wurde er sein bekanntester Biograf. Unterstützt durch seine französischen Sprachkenntnisse reiste und lebte er längere Zeit in Frankreich. Dort übernahm er u.a. auch die Aufgabe als Pariser Korrespondent der amerikanischen Zeitung THE WORLD aus New York. ![]() Für die Recherche von weiteren Personen im Umfeld von Jules Verne empfehle ich das ![]() |
Der große Verdruss meines Lebens Jules Vernes eigener Lebensbericht Aus
dem Englischen von Volker Dehs Das
folgende Interview wurde im Juni 1893 von Robert H. Sherard
geführt und erschien im Januar des folgenden Jahres in der New Yorker
Zeitschrift McClure's Magazine. Der lange unbekannt gebliebene
Text ist
eines der sehr wenigen Zeugnisse, in denen sich Verne freimittig zu
seiner
eigenen Person äußert. Der Journalist Robert Harborough Sherard (1861 -
1943)
war Urenkel des Dichters Wordsworth und ein enger Freund Oscar Wildes,
über den
er 1906 die erste Biographie veröffentlichte. Seine Bekanntschaft mit
Verne geh
auf den 24. November 1889 zurück, als er ihm in Amiens Nellie Bly
vorstellte,
die die Reiseroute von Phileas Fogg in 70 Tagen nachvollziehen wollte
(und 72 benötigte).
Für das McClure's Magazine führte er mehrere Gespräche mit
prominenten
Franzosen, unter anderem auch mit Emile Zola. Verne bemühte sich, ihm
einen Termin
bei Dumas fils zu vermitteln. Es kam später noch zu einem zweiten
Interview,
das Sherard unter dem Titel Jules
Verne Revisited am 9. Oktober
1903 in T.P.‘s
Weekly (London) veröffentlichte.
Im folgenden Text wurden kleinere
Irrtümer,
die eindeutig auf Erinnerungslücken Vernes oder Fehler des englischen
Reporters
zurückzuführen sind, stillschweigend vom Übersetzer korrigiert. „Der
große Verdruss meines Lebens besteht darin, dass ich
keinen Platz in der französischen Literatur bekommen habe.“ Bei
diesen Worten senkte der alte Mann seinen Kopf; ein
trauriger Ton schwang in seiner munteren, freundlichen Stimme mit. „lch
zähle
nicht in der französischen Literatur“, wiederholte er. Wer
war es, der da so mit gesenktem Kopf und einem
traurigen Unterton in seiner munteren Stimme sprach? lrgendein
Schreiberling
billiger, aber populärer Fortsetzungsromane für die Massenblätter;
irgendein
Literat, der nie einen Hehl daraus gemacht hatte, dass er seine Feder
lediglich
als Mittel Zum Geldverdienen betrachtet, und der mehr Wert auf ein
dickes Konto
bei der Schriftstellervereinigung legt als auf Ruhm und Ehre? Nein, so
merkwürdig, so ungeheuerlich es auch scheinen mag, es handelte sich um
niemand
anders als um Jules Verne. Jawohl: Jules Verne, der Jules Verne, Ihr
Jules
Verne und meiner, der die ganze Welt über so viele Jahre hinweg
begeistert hat
und der die Welt noch über Generationen hinweg begeistern wird. Der
Meister sprach diese Worte in der kühlen Bibliothek der
lndustriellen Gesellschaft von Amiens, und nie Werde ich den traurigen
Ton
vergessen, indem er sie vorbrachte. Es war Wie das Eingeständnis eines
vertanen
Lebens, der Seufzer eines alten Mannes über etwas, das nicht mehr
gutzumachen
ist. Es machte mich sehr betroffen, ihn so sprechen zu hören, und
alles, was
ich tun konnte. War, mit ehrlichem Enthusiasmus zu beschwören, dass er
für mich
Wie für Millionen andere ein großer Meister sei, Gegenstand unserer
ungeteilten
Bewunderung und unseres Respekts, der Romanautor, der uns mehr
Vergnügen
bereitet hat als so manch anderer Schriftsteller. der sich ans
Schreiben gemacht
hatte. Aber er schüttelte nur seinen grauen Kopf und sagte: „lch zähle
nicht in
der französischen Literatur.“ Sechsundsechzig
Jahre ist er alt, trotz seines Hinkens noch
immer rüstig, mit einem Gesicht, das sehr an die Züge von Victor Hugo
erinnert,
Wie ein gütiger alter Kapitän, voller Leben und mit gesunder
Gesichtsfarbe. Ein
Lid hängt leicht über das Auge, aber der Blick ist entschieden und
klar, und
von seiner ganzen Person geht eine Güte und Herzenswärme aus, die schon
immer
einen Mann ausgezeichnet haben, von dem Hector Malot vor vielen Jahren
einmal sagte:
„Er ist der beste aller guten Kameraden“ [1], den der kühle,
reservierte Alexandre
Dumas (Sohn) Wie seinen Bruder liebt und der sich sein ganzes Leben
lang -
trotz seiner brillanten Erfolge - nie einen einzigen richtigen Feind
gemacht
hat. Leider macht ihm sein Gesundheitszustand zu schaffen. In der
letzten Zeit
hat seine Sehkraft abgenommen, so dass er beizeiten unfähig ist, die
Feder Zu
führen, und es gibt Tage, an denen ihn Magenkrämpfe quälen, aber er ist
energisch wie eh und je. „Ich
habe sechsundsechzig Bücher geschrieben“, sagt er, „und
so Gott es will, Werde ich achtzig vollenden.“ Jules
Verne lebt am Boulevard Longueville in Amiens, an der
Ecke zur Rue Charles-Dubois, in einem schönen, geräumigen Haus, das er
angemietet
hat. (siehe dazu vertiefend: In
dieser Straße liegen auch die Wageneinfahrt und die
übrigen Eingänge. Die Fenster zum Boulevard Longueville gewähren einen
herrlichen Blick auf die malerische, wenn auch neblige Stadt Amiens mit
ihrer
alten Kathedrale und anderen mittelalterlichen Gebäuden. Vor dem Haus
auf der
gegenüberliegenden Seite des Boulevards verläuft in einer Unterführung
eine
Eisenbahnlinie, die genau unter dem Fenster von Vernes Arbeitszimmer in
einem
Park mit einem großen Musikpavillon verschwindet, in dem bei gutem
Wetter die
Militärkapelle aufspielt. Diese Verbindung stellt sich in meinen Augen wie ein Emblem für das Werk dieses Schriftstellers dar: der rasende Zug mit seinem Dröhnen und Scheppern der Ultra-Moderne - und die Romantik der Musik. lst es nicht gerade diese Verbindung von Wissenschaft und Industrie mit allem, was das Leben an Romantischem zu bieten hat, woraus Vernes Romane ihre Originalität beziehen, die man vergebens in den Werken irgendeines anderen lebenden Schriftstellers sucht - selbst in den Werken solcher Autoren, die am meisten in der französischen Literatur zählen? (Bild links /12/) Eine
hohe Mauer zieht sich an der Rue Charles-Dubois
entlang und versteckt vor den Augen der Passanten Hof und Garten von
Vernes
Haus. Wenn man am kleinen Seiteneingang geschellt und als Antwort auf
ein helles
Läuten die Tür geöffnet bekommen hat, tritt man in einen gepflasterten
lnnenhof
ein. Gegenüber liegen Küche und Wirtschaftsräume; zur Linken kann man
einen
hübschen, mit Bäumen besäumten Garten betrachten, und zur Rechten das
Haus, in das
eine Reihe die ganze Fassade einnehmender breiter Stufen führt. Durch
eine mit
Blumen und Palmen geschmückte Veranda gelangt der Besucher in den
Salon. Dies
ist ein reich möblierter Raum mit Marmor- und Bronzefiguren, warmen und
kostbaren Wandteppichen und sehr komfortablen Lehnstühlen - der Salon
eines
wohlhabenden Mannes mit Muße, der sich allerdings nicht großartig zur
Schau
stellen will. Der
Salon lässt nicht auf allzu häufigen Gebrauch schließen,
und das ist tatsächlich der Fall. Monsieur und Madame Verne sind beide
sehr
einfache Menschen, die nichts von großem Gebaren halten. aber viel von
Ruhe und
Gemütlichkeit. Das angrenzende große Speisezimmer wird abgesehen von
größeren
Essen und Familienfestlichkeiten nur selten genutzt, der Schriftsteller
und
seine Frau nehmen ihre einfachen Speisen in einem kleinen Raum neben
der Küche
zu sich. Vom
Hof aus blickt der Besucher an der äußeren Hausecke auf
einen stattlichen Turm. Die Wendeltreppe, die zu den oberen Stockwerken
führt,
befindet sich in diesem Turm, und ganz oben verschafft sie Eingang in
Vernes
Privaträume. Ein wie die Treppe mit rotem Stoff ausgelegter Gang
leitet, an
See- und Landkarten vorbei, in ein kleines Eckzimmer, in dem ein karges
Feldbett steht. Vor dem Erkerfenster ein kleiner Tisch, auf dem erst
kürzlich
zugeschnittene Schreibbögen liegen. Auf dem Sims eines winzigen Kamins
stehen
zwei Büsten, die eine Molière darstellend, die andere Shakespeare, und
darüber
hängt das Aquarell einer Dampfjacht in der Bucht von Neapel. In diesem
Raum arbeitet
Verne. Nebenan ist ein großes Zimmer mit prallgefüllten Bücherregalen,
die vom
Teppich bis zur Decke reichen. (siehe dazu vertiefend die
Bildergalerie: Auf
seine Arbeitsweise angesprochen, meinte M. Verne: „Ich
stehe jeden Morgen vor fünf Uhr auf - im Winter vielleicht etwas später
-,
damit ich Punkt fünf am Tisch sitze, wo ich bis elf Uhr arbeite. Ich
schreibe
sehr langsam und mit größter Sorgfalt, formuliere und ändere, bis jeder
Satz
genau die Form hat, die ich mir vorstelle. Ich habe stets Wenigstens
zehn
künftige Romane im Kopf, vollständig fertig gedachte Handlungsabläufe
und
Themen, so dass ich, Wie Sie sehen, kein Problem haben werde, die
achtzig
Romane zu vollenden - vorausgesetzt, ich bleibe am Leben. An den
Korrekturbögen
sitze ich allerdings die längste Zeit. Niemals bin ich mit Weniger als
sieben
oder acht Abzügen zufrieden, korrigiere und verbessere immer wieder, so
dass
man durchaus sagen kann, dass die letzte Druckfahne kaum noch Spuren
des
ursprünglichen Manuskripts aufweist. Das bedeutet sicher ein großes
Opfer an
Geld Wie an Zeit, aber ich habe immer versucht, in Form und Stil mein
Bestes zu
geben, obwohl man mir in dieser Hinsicht nie Gerechtigkeit hat zukommen
lassen.“ Wir
saßen in der Bibliothek der Industriellen Gesellschaft
beisammen. Vor M. Verne lag links ein Stoß Korrekturbögen, „der sechste
Durchgang“, wie er sagte, und rechts ein umfangreiches Manuskript, das
ich
neugierig anschaute, „das aber“, meinte der Schriftsteller, „nur ein
Rechenschaftsbericht
für den Stadtrat von Amiens ist, in dem ich mitwirke. Ich interessiere
mich
sehr für die Angelegenheiten der Stadt.“ Ich
bat M. Verne, mir über sein Leben und Werk zu erzählen,
und er versprach, mir Dinge zu sagen, über die er vorher noch nie
gesprochen
habe. Meine erste Frage betraf seine Jugend und Familie; darauf
antwortete er
mir folgendes: „Ich
bin am 8. Februar 1828 in Nantes geboren worden, so dass
ich nun in meinem sechsundsechzigsten Jahr stehe, und Sie sollten mich
lieber
über meine Gedanken zum Älterwerden als über meine
Kindheitserinnerungen
ausfragen. Wir waren eine ausgesprochen glückliche Familie. Unser Vater
– ein bewundernswerter
Mann - War Pariser, allerdings eher durch seine Erziehung, denn er kam
zwar in
Brie zur Welt, Wuchs aber in Paris auf, wo er auch sein Studium
absolvierte und
den Status eines Rechtsanwaltes erlangte. Meine Mutter kam aus der
Nieder-Bretagne, aus Morlaix, so dass sich in mir Pariser und
bretonisches Blut
gemischt haben.“ Diese
Eigentümlichkeit ist aus psychologischer Sicht sehr
interessant und hilft, Vernes Charakter zu verstehen, der die
Spritzigkeit, das
Savoir-Vivre und die Lebensfreude des Boulevardiers („Er ist
Boulevardier bis
in die Fingerspitzen“, hat Claretie über ihn geschrieben.) [2]
verbindet mit
der Liebe zum Alleinsein, mit der Religiosität und der Verehrung für
das Meer, wie
sie den Bretonen eigen sind. „Ich
hatte eine sehr glückliche Jugend. Mein Vater war
Notar und Rechtsanwalt in Nantes und hatte es zu einigem Wohlstand
gebracht. Er
war ein kultivierter Mann mit einem ausgeprägten Sinn für die
Literatur. Er schrieb
Lieder zu einer Zeit, als Liederschreiben in Frankreich noch gang und
gäbe war,
also zwischen 1830 und 1840. Aber er besaß keinerlei Ehrgeiz, und wenn
er sich
mit einiger Übung im Literarischen durchaus Achtung hätte verschaffen
können, zog
er es doch vor, alle Öffentlichkeit zu meiden. Seine Lieder wurden im
Familienkreis
gesungen, nur ganz wenige gelangten in Druck. Ich möchte hinzufügen,
dass keiner
von uns großen Ehrgeiz entwickelt hat; wir versuchten, unser Leben zu
genießen
und in Frieden unserer Arbeit nachzugehen. Mein Vater starb 1871, mit
zweiundsiebzig Jahren. Sehen Sie, er hätte sagen können: ›Ein Jahr war
ich alt,
als das Jahrhundert geboren wurde<, um auf eine berühmte Bemerkung
Victor
Hugos zu seinem Geburtsdatum anzuspielen. - Meine Mutter starb 1887 und
hinterließ zweiunddreißig Enkelkinder - siebenundneunzig Nachkommen,
wenn man
Vettern, Cousinen und deren Ehepartner hinzuzählt. Alle Kinder haben
überlebt,
womit ich meine, dass ihr der Tod keines ihrer fünf Kinder fortgenommen
hat. Sie
hatte zwei Söhne und drei Töchter, und sie alle sind heute noch am
Leben. In
der Bretagne sind Frauen und Männer von kräftiger Konstitution. Mein
Bruder Paul war und ist mein bester Freund. Ja, ich
kann schon sagen, er ist nicht nur mein Bruder, sondern mein intimster
Vertrauter, und diese Freundschaft besteht, seitdem ich mich erinnern
kann. Wie
viele Ausflüge wir in lecken Booten auf der Loire unternahmen! Als wir
fünfzehn
Jahre alt waren, gab es bis zum Meer keinen Winkel, keine Stelle an der
Loire, die
wir nicht schon ausgekundschaftet hatten. Und was waren das für
traurige Kähne,
mit denen wir uns zweifellos so mancher Gefahr aussetzten! Mal war ich
der Kapitän,
mal war es Paul. Aber Paul war der bessere von uns beiden. Wissen Sie,
später
trat er dann in die Marine ein und hätte ein ausgezeichneter Offizier
werden
können, wäre er nur kein Verne gewesen - womit ich sagen will, dass
auch er
keinerlei Ehrgeiz besaß. Als
ich zu schreiben begann, war ich zwölf. Es waren alles
Gedichte, und zwar ziemlich schlechte. Allerdings erinnere ich mich an
ein
Glückwunschgedicht zum Geburtstag meines Vaters -in Frankreich nennen
wir sie >compliments<
- das für sehr gut befunden wurde, und ich wurde dermaßen gelobt, dass
ich
nachher ganz stolz war. Ich weiß noch, dass ich schon damals sehr viel
Zeit
über meinen Sachen zubrachte, sie abschrieb und wieder abschrieb und
niemals so
richtig zufrieden mit den Ergebnissen war. Ich
nehme an, dass man in meiner Liebe zu Abenteuern und
zum Wasser den Keim erkennen kann, der Jahre später in meinen
schriftstellerischen Neigungen aufgegangen ist. Und ganz gewiss hat
sich die
Arbeitsweise, wie sie sich damals für mich herausbildete, für mein
ganzes
weiteres Leben als verbindlich erwiesen. Ich glaube, dass ich auf diese
Weise
kein einziges Werk dahingepfuscht habe. Ich
kann nicht behaupten, dass ich mich jemals sehr in die
Wissenschaft vertieft hätte - nein, das habe ich Wirklich nicht. Ich
meine
damit, dass ich niemals so richtig Wissenschaft studiert oder
praktiziert habe.
Allerdings machte es mir schon als kleiner Junge großen Spaß, Maschinen
beim
Funktionieren zuzusehen. Mein Vater hatte ein Landhaus in Chantenay, an
der
Loire-Mündung, und in der Nähe befand sich die staatliche
Maschinenfabrik von Indret. (siehe dazu vertiefend: Ich
bin auf das Gymnasium von Nantes gegangen, wo ich bis
zum Abschluss der Unterprima blieb und nach Paris geschickt wurde, um
die
Rechte zu studieren. Mein Lieblingsfach war schon immer die
Länderkunde, aber
als ich damals nach Paris ging, hatte ich nur literarische Pläne im
Kopf. Ich
stand ganz unter dem Einfluss von Victor Hugo und War Wirklich Wie
berauscht
von der ständig erneuerten Lektüre seiner Werke. Damals hätte ich ganze
Seiten
aus dem Glöckner von Notre Dame auswendig hersagen können. Aber
am
meisten beeindruckten mich seine Theaterstücke, und unter diesem
Einfluss
begann ich mit siebzehn Jahren eine Reihe von Tragödien und Komödien zu
verfassen, ganz zu schweigen von Romanen. So schrieb ich etwa eine
fünfaktige
Tragödie in Versen, mit dem Titel Alexander VI., ein
Trauerspiel über
den Borgia-Papst. Ein anderer Fünfakter aus jener Zeit war die Tragödie
Die
Pulververschwörung mit Guy Fawkes als Hauptfigur. Ein Drama
unter Ludwig
XV. war eine weitere Verstragödie, und unter den Komödien befand
sich zum
Beispiel Die Günstlinge des Tages, in fünf Akten und in Versen.
All
diese Werke wurden mit der größten Gewissenhaftigkeit verfasst und mit
unablässiger Sorgfalt im Hinblick auf den Stil. Ich habe immer sehr am
Stil
gefeilt, aber diesem Anspruch haben die Leute nie Glauben schenken
wollen. Ich
kam als Student gerade zu der Zeit nach Paris, als die
leichtlebigen Putzmacherinnen, mit alledem, was man so mit ihnen in
Verbindung
bringt, aus dem Quartier Latin verschwanden. (siehe dazu vertiefend: >Munter
Jungens, wachsam, kühn,
Der
Himmel ist blau, das Meer ist grün,
Aufgepasst
und kühn.<
Ein anderer Freund, dessen Bekanntschaft ich während des Studiums machte und der bis heute mein Freund geblieben ist, ist Leroy, derzeitig Abgeordneter des Départements Morbihan. Aber der Freund, dem ich am meisten Dank und Zuneigung schulde, ist Alexandre Dumas der Jüngere, dem ich zum ersten Mal begegnete, als ich einundzwanzig war. Ganz schnell wurden Wir Busenfreunde. Er war der erste, der mich zum Schreiben ermunterte. Er war, würde ich sagen, mein erster Gönner. Heute sehen wir uns nicht mehr, aber solange ich lebe, werde ich niemals das Wohlwollen vergessen, das er mir entgegenbrachte, und die Dankbarkeit, die ich ihm schulde. Er hat mich seinem Vater vorgestellt. Wir schrieben zusammen an einem Stück mit dem Titel Die abgebrochenen Zelte (Les Pailles rompues), das am historischen Theater und später am Gymnasium aufgeführt wurde, und an dem Dreiakter Elf Tage vor verschlossenen Türen (Onze jours de siège), das am Vaudeville gespielt wurde. (Bild
recht /13/) Damals
lebte ich von der mageren Unterstützung, die mir
mein Vater gewährte, und träumte vom großen Geld, was mich zu ein oder
zwei Börsenspekulationen
veranlasste. Natürlich haben sich meine Träume dadurch nicht in
Wirklichkeit
umsetzen lassen. Aber aus den wiederholten Besuchen der Wucherbretter
in der
Börse habe ich doch einigen Nutzen gezogen, indem ich lernte, was es
mit der >Romantik
des Handels< und mit dem Geschäftsfieber auf sich hat, die ich in
vielen
Romanen beschreibe und einsetze. Neben
den Börsenspekulationen, der Zusammenarbeit mit
Hignard an Operetten und Chansons, mit Dumas an Komödien, schrieb ich
kurze
Erzählungen für Zeitschriften. Mein erstes Werk erschien in Mit
vierunddreißig schrieb ich meinen ersten
wissenschaftlichen Roman. Das war Hier
unterbrach ich M. Verne und sagte: „Ich würde gerne wissen,
wie Sie diesen Roman geschrieben haben, weshalb und wie Sie sich darauf
vorbereitet haben. Hatten Sie überhaupt irgendwelche Kenntnisse von der
Ballonfahrt, eigene Erfahrungen?“. „Überhaupt
keine“, antwortete M. Verne. „Ich schrieb Fünf
Wochen im Ballon nicht als eine Geschichte über die Ballonfahrt,
sondern als
Geschichte über Afrika. Ich habe mich immer schon für Geographie und
Reisen
begeistert, und ich wollte eine romanhafte Beschreibung Afrikas
liefern. Nun
gab es keine andere Möglichkeit, meine Reisenden durch Afrika zu
schicken als
mit einem Ballon, und aus diesem Grunde führte ich eben diesen Ballon
ein.
Damals hatte ich noch keinen Aufstieg in einem Ballon unternommen. In
der Tat
bin ich nur ein einziges Mal in meinem Leben geflogen. Das War in
Amiens, und
lange nachdem ich meinen Roman veröffentlicht hatte. Dabei handelte es
sich
auch nur um >Vierundzwanzig Minuten im Ballon<, denn beim Start
kam es zu
einem kleinen Zwischenfall. Der Aeronaut Godard küsste seinen kleinen
Sohn just
in dem Augenblick, als der Ballon aufstieg, Wir mussten ihn mitnehmen,
und
damit war der Ballon so beladen, dass wir nicht weit fliegen konnten.
Wir
segelten gerade bis Longueau, dem Eisenbahnknotenpunkt, an dem Sie bei
Ihrer
Reise hierher vorbei gekommmen sind. Ich kann Ihnen versichern, dass
ich sowohl
zur Zeit, als ich den Roman schrieb, als auch heute, der Möglichkeit,
einen
Ballon einmal lenken zu können, keinerlei Glauben schenkte - es sei
denn, man
fliegt in absolut statischer Umgebung, so wie beispielsweise in diesem
Raum.
Wie könnte ein Ballon beschaffen sein, um Luftströmungen mit sechs,
sieben oder
acht Metern in der Sekunde standzuhalten? Das ist reines Wunschdenken;
ich glaube,
dass wenn die Frage je gelöst werden soll, man eine Maschine benutzen
muss, die
schwerer als die Luft ist und nach dem Prinzip des Vogels funktioniert,
der
selber schwerer ist als die Luft, die er verdrängt.“ „Dann
haben Sie auf keine Wissenschaftliche Ausbildung
aufbauen können?“ „Überhaupt
nicht. Ich habe wirklich niemals irgendein
wissenschaftliches Studium betrieben; allerdings habe ich bei meinen
Lektüren
überall Informationen angesammelt, die sich als sehr hilfreich erwiesen
haben.
Ich kann Ihnen versichern, dass ich ein großer Leser bin und dass ich
immer mit
dem Stift in der Hand lese. Überall trage ich ein Notizbuch mit mir
herum und
schreibe sofort wie Dickens‘ Mr. Pickwick all das auf, was mich
interessiert
und meinen Büchern dienlich sein könnte. Um Ihnen eine Vorstellung
meiner
Lektüre zu geben: Jeden Tag nach dem Mittagessen komme ich hierher und
mache
mich sofort an die Arbeit, fünfzehn verschiedene Zeitungen
durchzugehen, immer die
gleichen fünfzehn, und Sie dürfen sicher sein, dass nur wenig meiner
Aufmerksamkeit entgeht. Finde ich etwas von Belang, wird es sofort
notiert. Anschließend
lese ich die Zeitschriften, etwa die >Revue Bleue<, die >Revue
Rose<,
die ›Revue des deux mondes<, >Cosmos<, Tissandiers >La
Nature<,
Flammarions >L' Astronomie<. Ich lese auch die Bulletins der
Wissenschaftlichen Gesellschaften, vor allem der Geographischen
Gesellschaft,
denn Sie sehen ja, dass die Geographie zugleich meine Leidenschaft und
mein
Arbeitsgebiet ist. Ich besitze alles von Reclus - ich bin ein großer
Bewunderer
von Elisée Reclus - und den ganzen Arago [5]. Außerdem lese ich - immer
wieder
aufs Neue, denn ich bin ein äußerst sorgfältiger Leser - die Sammlung
mit dem
Titel ›Le Tour du monde<, eine Serie von Reiseberichten. Auf diese
Weise
habe ich viele tausend Notizen aus allen möglichen Gebieten angehäuft
und
verfüge heute zu Hause über mindestens zwanzigtausend Notizen, die,
bislang
noch ungenutzt, einmal Eingang in meine Werke finden können. Einige
Notizen
habe ich nach Unterhaltungen mit anderen Leuten angelegt. Ich liebe es,
Leuten
beim Sprechen zuzuhören, vorausgesetzt, sie sprechen über Dinge, von
denen sie
etwas verstehen. Ich hatte außerdem das große Glück, zu einer Zeit auf
die Welt
gekommen zu sein, zu der es Nachschlagewerke über jedes erdenkliche
Wissensgebiet
gibt. Ich musste nur darin das Thema nachschlagen, und schon hatte ich
die Information,
die ich brauchte. Natürlich habe ich mir im Laufe der Jahre auch viele
Fakten
angelesen, und wie ich schon bemerkte, habe ich viele wissenschaftliche
Notizen
im Kopf. Zum Beispiel saß ich eines Tages in einem Pariser Café und las
in der
Zeitung >Le Siècle< die Nachricht, dass ein Mensch binnen achtzig
Tagen
um die Welt reisen könne; da kam mir sofort die Idee, ich könnte von
der
Zeitverschiebung profitieren und meinen Reisenden auf seiner Reise
einen Tag
gewinnen oder verlieren lassen. Da war mein Schlusseffekt schon
gefunden. Die
Geschichte selbst wurde erst lange danach geschrieben. Ich trage Ideen
jahrelang
mit mir herum - manchmal zehn oder fünfzehn Jahre -, ehe ich ihnen eine
Form
gebe. Mein
Ziel ist es, die Erde darzustellen, und nicht nur die
Erde, sondern auch das Universum, denn ich habe meine Leser im Roman
manchmal
weit von der Erde fortgeführt. Und zugleich habe ich versucht, einen
sehr hohen
Anspruch an die Schönheit des Stils zu verwirklichen. Man sagt
gemeinhin, im
Abenteuerroman könne es keinen Stil geben, aber das ist nicht wahr;
obwohl ich zugebe,
dass es sehr viel schwieriger ist, einem solchen Roman eine gute
literarische
Form zu geben als etwa den Charakterstudien, die heute so in Mode sind.
Und
lassen Sie mich ruhig zugeben“ - hier zuckte Verne leicht mit seinen
breiten
Schultern -, „dass ich kein großer Verehrer des sogenannten
Psychologischen
Romans bin, weil ich nicht verstehen kann, was ein Roman mit
Psychologie zu tun
haben soll, und deshalb bewundere ich auch nicht sonderlich diese
sogenannten
psychologischen Schriftsteller. Eine
Ausnahme mache ich allerdings für Daudet und de Maupassant.
Für de Maupassant hege ich die größte Verehrung. Er ist ein Mann von
Genie, der
vom Himmel mit der Gabe gesegnet wurde, über alles schreiben zu können
und so natürlich
und leicht Sachen hervorzubringen, wie ein Apfelbaum Äpfel produziert. Mein
Lieblingsautor aber ist Dickens - und ist es schon
immer gewesen. Ich kann wohl nicht mehr als hundert Wörter Englisch, so
dass
ich ihn in Übersetzungen lesen musste. Aber, Sir, ich erkläre vor
Ihnen“ -
Verne legte mit Nachdruck seine Hand auf den Tisch -, „dass ich den
gesamten
Dickens mindestens zehnmal gelesen habe. Ich kann nicht sagen, dass ich
ihn de
Maupassant vorziehe, denn zwischen diesen beiden ist kein Vergleich
möglich;
aber meine Liebe zu ihm ist unermesslich, und in meinem nächsten Roman Der
Findling
werde ich den Beweis dafür antreten und sozusagen meinen Schuldschein
abliefern.
Ich war auch immer schon ein großer Bewunderer von Coopers Werken.
Fünfzehn
unter ihnen halte ich für unsterblich.“ Dann
fügte Verne hinzu, so als würde er laut nachdenken: „Dumas
sagte mir öfter, wenn ich mich bei ihm darüber beklagte, dass mein
Platz in der
französischen Literatur nicht anerkannt werde: >Sie hätten ein
amerikanischer oder englischer Autor sein sollen. Dann hätten Ihnen
Ihre ins
Französische übersetzten Bücher eine enorme Popularität verschafft, und
Ihre
Landsleute würden Sie als einen der größten Meister des Romans
anerkennen!<.
So aber gelte ich als belanglos für die französische Literatur. Vor
fünfzehn
Jahren schlug Dumas meinen Namen in der Académie française vor, und
Weil ich
damals mehrere Freunde in der Akademie zählte, Labiche, Sandeau und
andere,
schien es eine Möglichkeit für eine Wahl und damit die formale
Anerkennung
meines Werkes zu geben [6]. Aber es hat niemals Erfolg gehabt, und wenn
ich
heute Briefe aus Amerika. erhalte, die an >M. Jules Verne of the
French
Academy< gerichtet sind, muss ich insgeheim lächeln. Seit der Zeit,
als mein
Name vorgeschlagen wurde, sind zweiundvierzig Wahlen aufeinander
gefolgt, so dass
sich die Akademie sozusagen einmal ganz erneuert hat. Mich aber hat man
dabei übergangen.“ Bei
dieser Gelegenheit äußerte M. Verne jene Worte, die ich
aufgrund der Prägnanz ihrer Aussage an den Anfang dieses Berichtes
gesetzt habe.
Um das Thema zu wechseln, fragte ich den Meister nach seinen Reisen: „Ich
habe zu meinem Vergnügen gesegelt, allerdings immer
mit dem Hintergedanken, Informationen für meine Bücher zu bekommen.
(siehe dazu vertiefend:
In
Schwarz-Indien ist der Bericht meiner
England-Reise und der Besuch der schottischen Seen nachzulesen. Eine
schwimmende Stadt ergab sich aus meiner Amerika-Reise im Jahre
1867, auf
der >Great Eastern<: Ich fuhr nach New York, besuchte Albany und
die
Niagarafälle, wo ich zu meiner Freude das große Glück hatte, den
Niagara
zugefroren zu erleben. Das War am 14. April, und Fluten von Wasser
stürzten
sich in die offenen Schlünde aus Eis. Mathias
Sandorf
profitierte von einer Reise von Tanger nach Malta auf meiner Jacht
>Saint-Michel<,
benannt nach meinem Sohn Michel, der mich zusammen mit seiner Mutter
und meinem
Bruder Paul auf der Reise begleitete. 1878 unternahm ich eine höchst
lehrreiche
und noch angenehmere Segeltour mit Raoul-Duval, dem jüngeren Hetzel,
und meinem
Bruder ins Mittelmeer. Reisen war das größte Vergnügen meines Lebens,
und mit
großem Bedauern musste ich es 1886 infolge eines Unfalls aufgeben. Sie
kennen
die traurige Geschichte eines meiner Neffen, der mich verehrte und den
ich auch
sehr liebhatte. Eines Tags kam er nach Amiens, um mich zu besuchen, und
nachdem
er irgendetwas wie toll gestammelt hatte, zog er einen Revolver und
schoss auf mich,
verwundete mich am linken Fuß, so dass ich für den Rest meines Lebens
hinken muss.
Die Wunde hat sich nie geschlossen, und die Kugel konnte nie entfernt
werden.
Der arme Junge War nicht bei Sinnen und sagte, er hätte das getan, um
meinem
Anspruch auf einen Platz in der Akademie Geltung zu verschaffen. Er ist
nun in
einer Anstalt, und ich fürchte, dass er niemals mehr genesen wird. Die
große
Enttäuschung, die sich für mich aus alledem ergibt, ist, dass ich wohl
nicht
mehr in die Lage kommen werde, Amerika wiederzusehen. Dieses Jahr hätte
ich so
gerne Chicago besucht, aber in meinem Gesundheitszustand mit dieser
offenen
Wunde war das so gut wie unmöglich [7]. Da Sie für die Menschen in
Amerika
schreiben, bitte ich Sie, ihnen mitzuteilen, dass wenn sie mich lieben
- und
dessen bin ich mir sicher, denn jedes Jahr erhalte ich tausende Briefe
aus den
Staaten - ich ihre Zuneigung von ganzem Herzen erwidere. Oh, wenn ich
nur
hingehen und sie alle sehen könnte, das wäre die größte Freude meines
Alters! Obwohl nun die meisten geographischen Angaben in meinen Romanen auf persönlichen Beobachtungen beruhen, musste ich mich manchmal für die Beschreibungen ganz auf meine Lektüre verlassen. Zum Beispiel im bereits erwähnten Roman Der Findlíng, der gerade herauskommt, beschreibe ich die Abenteuer eines kleinen Jungen in Irland. Ich stoße auf ihn, als er zwei Jahre alt ist und verlasse ihn, als er fünfzehn ist und sein Vermögen und das seiner Freunde gemacht hat - das ist ein Romanende, nicht wahr? Er reist durch ganz Irland, und da ich selber Irland nie besucht habe, habe ich die Beschreibungen der Land- und Ortschaften Büchern entnommen.
Ich
habe für mehrere Jahre im Voraus Bücher fertig. Der
nächste Roman, also derjenige, der im kommenden Jahr veröffentlicht
wird, heißt Meister Antífers wunderbare Abenteuer und ist
bereits ganz
fertiggestellt. Es ist die Geschichte einer Schatzsuche, und die
Handlung
basiert auf einer sehr interessanten geometrischen Aufgabe. Nun bin ich
in den
Roman vertieft, der 1895 erscheinen soll, aber ich kann noch gar nichts
darüber
sagen, weil er noch keinerlei Form angenommen hat. Zwischendurch
schreibe ich Erzählungen. So wird in der
nächsten Weihnachtsausgabe des >Figaro< eine Geschichte von mir
unter dem
Titel Herr Dis und Fräulein Es erscheinen. (Dis und Es sind,
wie Sie wissen,
auf dem Klavier exakt dieselbe Note.) Verstehen Sie, worauf ich
hinauswill?
Hier kommt mein musikalisches Wissen ins Spiel. Nichts, Was man einmal
gelernt
hat, geht jemals verloren. Die
Leute fragen mich des Öfteren, wie auch Sie es getan
haben, weshalb ich in Amiens Wohne, ich, der ich von Instinkt aus so
durch und
durch Pariser bin. Der Grund liegt darin, dass, wie schon gesagt,
bretonisches
Blut in mir fließt, ich Ruhe und Gemächlichkeit liebe und wohl
nirgendwo
glücklicher leben könnte als in einem Kloster. Ein ruhiges Leben, das
ich dem
Studium und der Arbeit widmen kann, ist für mich ein Vergnügen. Zum
ersten Mal
kam ich 1856 nach Amiens, wo ich die Dame kennenlernte, die nun meine
Frau ist
und die damals - sie hieß Madame Deviane - eine Witwe mit zwei kleinen
Töchtern
war. Familienbande und die Ruhe des Ortes haben mich seitdem an Amiens
gefesselt. Und das ist eine gute Sache, denn wie mir Hetzel eines Tages
mal
sagte, hätte ich wohl zehn Bücher weniger geschrieben als es jetzt der
Fall
ist, wenn ich in Paris geblieben wäre. Ich genieße mein Leben sehr. Ich
erklärte bereits, wie ich morgens arbeite und nachmittags lese. Ich
halte mich
so viel in Bewegung wie möglich. Das ist das Geheimnis meiner
Gesundheit und
Kraft. Und ich pflege Weiterhin meine Liebe zum Theater; Wann immer im
kleinen
Theater hier ein Stück aufgeführt wird, können Sie sicher sein, Madame
Verne
und ihren Gatten in ihrer Loge anzutreffen. Dann essen wir im Hotel
Continental
zu Abend, um noch einen kleinen Spaziergang machen und unserem Personal
freigeben
zu können. Unser einziges Kind, Michel, lebt in Paris, wo er
verheiratet ist
und drei Kinder hat. Er schreibt ganz gekonnt über wissenschaftliche
Themen.
Ich habe nur ein einziges Haustier; Sie sehen es auf der Photographie
meines
Hauses; das ist Follet, mein guter alter Hund.“ Ich
stellte M. Verne eine Frage, die mir, wenn auch
indiskret, so doch notwendig schien. Ich hatte gehört, dass der Erlös
seiner wunderbaren
Bücher unter dem Einkommen eines gewöhnlichen Journalisten liegen
solle. Aus bestunterrichteter
Quelle hatte ich erfahren, dass M. Verne im Durchschnitt niemals mehr
als
fünftausend Dollar jährlich verdiene [8]. M. Verne meinte dazu:
„Darüber würde
ich lieber gar nichts sagen. Es stimmt, dass meine ersten Bücher,
eingeschlossen meine erfolgreichsten, für ein Zehntel ihres Wertes
verkauft
worden sind. Aber nach 1876, also nach dem Kurier des Zaren,
wurde mein
Vertrag geändert und mir ein angemessener Anteil am Gewinn aus meinen
Romanen
zugesichert. Aber ich habe mich nicht zu beklagen. Wenn mein Verleger
auch Geld
verdient hat - um so besser. Sicher könnte ich bedauern, keine
günstigeren
Konditionen für meine Werke ausgehandelt zu haben. So hat Reise um
die Erde
in 80 Tagen allein in Frankreich zehn Millionen Francs eingebracht,
und der Kurier des Zaren sieben Millionen, von denen ich
wesentlich weniger als
meinen Anteil gesehen habe [9]. Aber ich bin und war nie ein Mensch,
dem es nur
ums Geldverdienen ging. Ich bin ein Mann der Literatur, ein Künstler,
lebe dafür,
einem Ideal nahezukommen, stürze mich versessen auf eine Idee, glühe
vor
Enthusiasmus über meinem Werk, das ich dann, sowie es fertiggestellt
ist,
beiseitelege und so gründlich vergesse, dass ich öfter in meinem
Arbeitszimmer
sitze, einen Roman von Jules Verne zur Hand nehme und ihn mit Freuden
lese.
Etwas mehr Gerechtigkeit von meinen Landsleuten mir gegenüber hätte ich
millionenmal höher bewertet als die paar tausend Dollars, die mir meine
Bücher
zusätzlich zu dem, was ich an ihnen jährlich verdient habe, hätten
einbringen
müssen. Das bedaure ich wirklich und werde es immer bedauern.“ Ich
warf einen Blick auf die Rosette des Offiziers der
Ehrenlegion, die im Knopfloch der luftigen blauen Jacke des Meisters
steckte. „Ja“,
sagte er, „das ist ein wenig Anerkennung!“ Und fügte mit einem Lächeln
hinzu: „Ich
war der letzte, der im Kaiserreich ausgezeichnet wurde. Zwei Stunden,
nachdem
mein Dekret unterzeichnet worden ist, hatte das Kaiserreich aufgehört
zu sein. Meine
Beförderung zum Offizier wurde im Juli letzten Jahres unterzeichnet.
Aber den
Dekorationen jage ich ebenso wenig hinterher wie dem Gold. Es wäre
schön, wenn
die Leute sähen, was ich getan habe oder versucht habe zu tun, und sie
sollten
nicht den Künstler im Geschichtenerzähler übersehen. Ich bin Künstler“,
wiederholte Jules Verne, richtete sich auf und trat nachdrücklich mit
dem Fuß
auf den Teppich. „Ich
bin Künstler“, sagte Jules Verne. Amerika - solange es
ihn liest, wird ihm dabei begeistert zustimmen. |
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![]() Wiedergabe von Volkers Artikels auf den Seiten 61 bis 74. |
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© Andreas Fehrmann – 10/2023, letzte Aktualisierung 19. Oktober 2023