Zuhause bei Jules Verne

Ein Interview des Schriftstellers 1893


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Titel der Ausgabe /10/
DetailEs gibt nur eine handvoll authentische und aussagekräftige Interwiews mit Jules Verne. Hier das inhaltlich umfangreichste und sehr bemerkenswerte Interview durch Robert H. Sherard von 1893. Es wurde in der amerikanischen Wochenzeitschrift  McClure's Magazine erstveröffentlicht.  Der originale Titel des Artikels hatte den Namen: JULES VERNE AT HOME (siehe links /11/). Die unten im Text verwendeten Illustrationen sind die originalen Bilder der Ausgabe. Die Absatzüberschriften des Originaltextes habe ich, wie vom Übersetzer praktiziert, weggelassen.

Die im Text eingebundenen Links, sind interne Verweise auf weiterführende Beiträge auf meiner Jules-Verne-Seite.

Die unten genannten Fussnoten basieren auf der Ausarbeitung des Übersetzers Volker Dehs.Sie sind in eckigen Klammern gesetzt.
Die Genehmigung zur Nachnutzung der Übersetzung erhielt ich dankenswerter Weise mit Schreiben vom Übersetzer am 5. September 2023. Weitere Angaben zur Veröffentlichung des deutschsprachigen Textes: siehe ganz unten



Fußnoten des Übersetzers Volker Dehs:

[1] Hector Malot (1830-1907) war ein Freund aus Jules Vernes Zeit an der Börse. 1878 veröffentlichte er, ebenfalls bei Hetzel. seinen erfolgreichen sozialkritischen Jugendroman Heimatlos.

[2] Jules Claretie (1840-1913), frz. Literaturkritiker und Romanautor.

[3] Victor Massé (1822-1884), Komponist von komischen Opern; Léo Delibes (1836-1891) übernahm 1853 die Stelle des Korrepetitors am Lyrischen Theater, als Verne dort als Sekretär arbeitete. Heute noch bekannt für seine Ballette Sylvia und Coppelia.

[4] Emile Perrin (1814-1885) übernahm 1855 die Leitung des Lyrischen Theaters und stand 1848- 1857 gleichzeitig der Opéra-Comique vor. Leitete ab 1871 die traditionsreiche Comédie francaise.

[5] Elisée Reclus (1830*1905), ehemaliger Anarchist und Verfasser einer monumentalen Géographie Universelle (1878 - 1894) in zwanzig Bänden. Jacques Arago (1799 - 1855) Veröffentlichte 1839- 1840 eine dreibändige Reise um die Welt; arbeitete 1851 mit dem jungen Verne an dem verlorenen Theaterstück Die Gelehrten.

[6] Die Académie française vereinigt seit ihrer Gründung 1635 auf 42 verfügbaren Plätzen die jeweils „größten Geister“des Landes, die nach dem Tod eines ihrer Mitglieder in einem strengen Wahlverfahren dessen Nachfolger wählen. Eugène Labiche (1815-1888) verfasste sehr amüsante Gesellschaftskomödien; seine berühmte Reise des Monsieur Perrichon (1860) persiflierte Verne 1896 mit Clovis Dardentor. Jules Sandeau (1811-1883) War ebenfalls Dramatiker.

[7] 1893 fand in Chicago die neunte große Weltausstellung statt.

[8] Etwa 50.000 DM.

[9] Etwa 20 bzw. 14 Millionen DM. Verne spricht hier vom Erlös der Theaterfassungen beider Romane.


Meine Quellenangaben und Anmerkungen:

/10/ Mc Clure's Magazin; New York, Januar 1894; Ausgabe: Volume two / Number two; Das Interview befindet sich auf den Seiten 115 bis 124; CF /7259/

/11/ ebenda, Seite 115

/12/ ebenda, Seite 116

/13/ ebenda, Seite 119

/14/ ebenda, Seite 122

/15/ ebenda, Seite 123

/16/
in diversen Quellen recherchiert
und von mir aufbereitet





Über den Autor des Interviews - Robert H. Sherard (1861 – 1943)

Sherard

Robert Harborough Sherard, meist nur Robert H. Sherard genannt, wurde am 3. Dezember 1861 in Putney / London geboren. Er starb mit 81 Jahren am 30. Januar 1943 in Ealing, im Westen Londons. Er galt als ein bekannter Journalist und Schriftsteller der damaligen Zeit. Durch seine Freundschaft mit Oscar Wilde wurde er sein bekanntester Biograf. Unterstützt durch seine französischen Sprachkenntnisse reiste und lebte er längere Zeit in Frankreich. Dort übernahm er u.a. auch die Aufgabe als Pariser Korrespondent der amerikanischen Zeitung THE WORLD aus New York.
Link  In dessen Auftrag besuchte er zusammen mit Nellie Bly das erste Mal Jules Verne in Amiens. /16/



Für die Recherche von weiteren Personen im Umfeld von Jules Verne empfehle ich das LinkPersonenregister dieser Domain.


Der große Verdruss meines Lebens

Jules Vernes eigener Lebensbericht

Aus dem Englischen von Volker Dehs

Das folgende Interview wurde im Juni 1893 von Robert H. Sherard geführt und erschien im Januar des folgenden Jahres in der New Yorker Zeitschrift McClure's Magazine. Der lange unbekannt gebliebene Text ist eines der sehr wenigen Zeugnisse, in denen sich Verne freimittig zu seiner eigenen Person äußert. Der Journalist Robert Harborough Sherard (1861 - 1943) war Urenkel des Dichters Wordsworth und ein enger Freund Oscar Wildes, über den er 1906 die erste Biographie veröffentlichte. Seine Bekanntschaft mit Verne geh auf den 24. November 1889 zurück, als er ihm in Amiens Nellie Bly vorstellte, die die Reiseroute von Phileas Fogg in 70 Tagen nachvollziehen wollte (und 72 benötigte). Für das McClure's Magazine führte er mehrere Gespräche mit prominenten Franzosen, unter anderem auch mit Emile Zola. Verne bemühte sich, ihm einen Termin bei Dumas fils zu vermitteln. Es kam später noch zu einem zweiten Interview, das Sherard unter dem Titel Jules Verne Revisited am 9. Oktober 1903 in T.P.‘s Weekly (London) veröffentlichte. Im folgenden Text wurden kleinere Irrtümer, die eindeutig auf Erinnerungslücken Vernes oder Fehler des englischen Reporters zurückzuführen sind, stillschweigend vom Übersetzer korrigiert.

„Der große Verdruss meines Lebens besteht darin, dass ich keinen Platz in der französischen Literatur bekommen habe.“

Bei diesen Worten senkte der alte Mann seinen Kopf; ein trauriger Ton schwang in seiner munteren, freundlichen Stimme mit. „lch zähle nicht in der französischen Literatur“, wiederholte er.

Wer war es, der da so mit gesenktem Kopf und einem traurigen Unterton in seiner munteren Stimme sprach? lrgendein Schreiberling billiger, aber populärer Fortsetzungsromane für die Massenblätter; irgendein Literat, der nie einen Hehl daraus gemacht hatte, dass er seine Feder lediglich als Mittel Zum Geldverdienen betrachtet, und der mehr Wert auf ein dickes Konto bei der Schriftstellervereinigung legt als auf Ruhm und Ehre? Nein, so merkwürdig, so ungeheuerlich es auch scheinen mag, es handelte sich um niemand anders als um Jules Verne. Jawohl: Jules Verne, der Jules Verne, Ihr Jules Verne und meiner, der die ganze Welt über so viele Jahre hinweg begeistert hat und der die Welt noch über Generationen hinweg begeistern wird.

Der Meister sprach diese Worte in der kühlen Bibliothek der lndustriellen Gesellschaft von Amiens, und nie Werde ich den traurigen Ton vergessen, indem er sie vorbrachte. Es war Wie das Eingeständnis eines vertanen Lebens, der Seufzer eines alten Mannes über etwas, das nicht mehr gutzumachen ist. Es machte mich sehr betroffen, ihn so sprechen zu hören, und alles, was ich tun konnte. War, mit ehrlichem Enthusiasmus zu beschwören, dass er für mich Wie für Millionen andere ein großer Meister sei, Gegenstand unserer ungeteilten Bewunderung und unseres Respekts, der Romanautor, der uns mehr Vergnügen bereitet hat als so manch anderer Schriftsteller. der sich ans Schreiben gemacht hatte. Aber er schüttelte nur seinen grauen Kopf und sagte: „lch zähle nicht in der französischen Literatur.“

Sechsundsechzig Jahre ist er alt, trotz seines Hinkens noch immer rüstig, mit einem Gesicht, das sehr an die Züge von Victor Hugo erinnert, Wie ein gütiger alter Kapitän, voller Leben und mit gesunder Gesichtsfarbe. Ein Lid hängt leicht über das Auge, aber der Blick ist entschieden und klar, und von seiner ganzen Person geht eine Güte und Herzenswärme aus, die schon immer einen Mann ausgezeichnet haben, von dem Hector Malot vor vielen Jahren einmal sagte: „Er ist der beste aller guten Kameraden“ [1], den der kühle, reservierte Alexandre Dumas (Sohn) Wie seinen Bruder liebt und der sich sein ganzes Leben lang - trotz seiner brillanten Erfolge - nie einen einzigen richtigen Feind gemacht hat. Leider macht ihm sein Gesundheitszustand zu schaffen. In der letzten Zeit hat seine Sehkraft abgenommen, so dass er beizeiten unfähig ist, die Feder Zu führen, und es gibt Tage, an denen ihn Magenkrämpfe quälen, aber er ist energisch wie eh und je.

„Ich habe sechsundsechzig Bücher geschrieben“, sagt er, „und so Gott es will, Werde ich achtzig vollenden.“

Jules Verne lebt am Boulevard Longueville in Amiens, an der Ecke zur Rue Charles-Dubois, in einem schönen, geräumigen Haus, das er angemietet hat. (siehe dazu vertiefend: Link  Zu Hause bei Jules Verne in Amiens) Es ist ein Haus mit drei Stockwerken, mit jeweils drei Reihen zu fünf Fenstern, die auf den Boulevard Longueville hinausgehen. zu drei Fenstern, die auf die Straßenecke hinausweisen, und zu drei Weiteren auf die Rue Charles-Dubois.

In dieser Straße liegen auch die Wageneinfahrt und die übrigen Eingänge. Die Fenster zum Boulevard Longueville gewähren einen herrlichen Blick auf die malerische, wenn auch neblige Stadt Amiens mit ihrer alten Kathedrale und anderen mittelalterlichen Gebäuden. Vor dem Haus auf der gegenüberliegenden Seite des Boulevards verläuft in einer Unterführung eine Eisenbahnlinie, die genau unter dem Fenster von Vernes Arbeitszimmer in einem Park mit einem großen Musikpavillon verschwindet, in dem bei gutem Wetter die Militärkapelle aufspielt.

Diese Verbindung stellt sich in meinen Augen wie ein Emblem für das Werk dieses Schriftstellers dar: der rasende Zug mit seinem Dröhnen und Scheppern der Ultra-Moderne - und die Romantik der Musik. lst es nicht gerade diese Verbindung von Wissenschaft und Industrie mit allem, was das Leben an Romantischem zu bieten hat, woraus Vernes Romane ihre Originalität beziehen, die man vergebens in den Werken irgendeines anderen lebenden Schriftstellers sucht - selbst in den Werken solcher Autoren, die am meisten in der französischen Literatur zählen?

Detail

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Eine hohe Mauer zieht sich an der Rue Charles-Dubois entlang und versteckt vor den Augen der Passanten Hof und Garten von Vernes Haus. Wenn man am kleinen Seiteneingang geschellt und als Antwort auf ein helles Läuten die Tür geöffnet bekommen hat, tritt man in einen gepflasterten lnnenhof ein. Gegenüber liegen Küche und Wirtschaftsräume; zur Linken kann man einen hübschen, mit Bäumen besäumten Garten betrachten, und zur Rechten das Haus, in das eine Reihe die ganze Fassade einnehmender breiter Stufen führt. Durch eine mit Blumen und Palmen geschmückte Veranda gelangt der Besucher in den Salon. Dies ist ein reich möblierter Raum mit Marmor- und Bronzefiguren, warmen und kostbaren Wandteppichen und sehr komfortablen Lehnstühlen - der Salon eines wohlhabenden Mannes mit Muße, der sich allerdings nicht großartig zur Schau stellen will.

Der Salon lässt nicht auf allzu häufigen Gebrauch schließen, und das ist tatsächlich der Fall. Monsieur und Madame Verne sind beide sehr einfache Menschen, die nichts von großem Gebaren halten. aber viel von Ruhe und Gemütlichkeit. Das angrenzende große Speisezimmer wird abgesehen von größeren Essen und Familienfestlichkeiten nur selten genutzt, der Schriftsteller und seine Frau nehmen ihre einfachen Speisen in einem kleinen Raum neben der Küche zu sich.

Vom Hof aus blickt der Besucher an der äußeren Hausecke auf einen stattlichen Turm. Die Wendeltreppe, die zu den oberen Stockwerken führt, befindet sich in diesem Turm, und ganz oben verschafft sie Eingang in Vernes Privaträume. Ein wie die Treppe mit rotem Stoff ausgelegter Gang leitet, an See- und Landkarten vorbei, in ein kleines Eckzimmer, in dem ein karges Feldbett steht. Vor dem Erkerfenster ein kleiner Tisch, auf dem erst kürzlich zugeschnittene Schreibbögen liegen. Auf dem Sims eines winzigen Kamins stehen zwei Büsten, die eine Molière darstellend, die andere Shakespeare, und darüber hängt das Aquarell einer Dampfjacht in der Bucht von Neapel. In diesem Raum arbeitet Verne. Nebenan ist ein großes Zimmer mit prallgefüllten Bücherregalen, die vom Teppich bis zur Decke reichen. (siehe dazu vertiefend die Bildergalerie: Link Jules Verne in seinem Umfeld)

Auf seine Arbeitsweise angesprochen, meinte M. Verne: „Ich stehe jeden Morgen vor fünf Uhr auf - im Winter vielleicht etwas später -, damit ich Punkt fünf am Tisch sitze, wo ich bis elf Uhr arbeite. Ich schreibe sehr langsam und mit größter Sorgfalt, formuliere und ändere, bis jeder Satz genau die Form hat, die ich mir vorstelle. Ich habe stets Wenigstens zehn künftige Romane im Kopf, vollständig fertig gedachte Handlungsabläufe und Themen, so dass ich, Wie Sie sehen, kein Problem haben werde, die achtzig Romane zu vollenden - vorausgesetzt, ich bleibe am Leben. An den Korrekturbögen sitze ich allerdings die längste Zeit. Niemals bin ich mit Weniger als sieben oder acht Abzügen zufrieden, korrigiere und verbessere immer wieder, so dass man durchaus sagen kann, dass die letzte Druckfahne kaum noch Spuren des ursprünglichen Manuskripts aufweist. Das bedeutet sicher ein großes Opfer an Geld Wie an Zeit, aber ich habe immer versucht, in Form und Stil mein Bestes zu geben, obwohl man mir in dieser Hinsicht nie Gerechtigkeit hat zukommen lassen.“

Wir saßen in der Bibliothek der Industriellen Gesellschaft beisammen. Vor M. Verne lag links ein Stoß Korrekturbögen, „der sechste Durchgang“, wie er sagte, und rechts ein umfangreiches Manuskript, das ich neugierig anschaute, „das aber“, meinte der Schriftsteller, „nur ein Rechenschaftsbericht für den Stadtrat von Amiens ist, in dem ich mitwirke. Ich interessiere mich sehr für die Angelegenheiten der Stadt.“

Ich bat M. Verne, mir über sein Leben und Werk zu erzählen, und er versprach, mir Dinge zu sagen, über die er vorher noch nie gesprochen habe. Meine erste Frage betraf seine Jugend und Familie; darauf antwortete er mir folgendes:

„Ich bin am 8. Februar 1828 in Nantes geboren worden, so dass ich nun in meinem sechsundsechzigsten Jahr stehe, und Sie sollten mich lieber über meine Gedanken zum Älterwerden als über meine Kindheitserinnerungen ausfragen. Wir waren eine ausgesprochen glückliche Familie. Unser Vater – ein bewundernswerter Mann - War Pariser, allerdings eher durch seine Erziehung, denn er kam zwar in Brie zur Welt, Wuchs aber in Paris auf, wo er auch sein Studium absolvierte und den Status eines Rechtsanwaltes erlangte. Meine Mutter kam aus der Nieder-Bretagne, aus Morlaix, so dass sich in mir Pariser und bretonisches Blut gemischt haben.“

Diese Eigentümlichkeit ist aus psychologischer Sicht sehr interessant und hilft, Vernes Charakter zu verstehen, der die Spritzigkeit, das Savoir-Vivre und die Lebensfreude des Boulevardiers („Er ist Boulevardier bis in die Fingerspitzen“, hat Claretie über ihn geschrieben.) [2] verbindet mit der Liebe zum Alleinsein, mit der Religiosität und der Verehrung für das Meer, wie sie den Bretonen eigen sind.

„Ich hatte eine sehr glückliche Jugend. Mein Vater war Notar und Rechtsanwalt in Nantes und hatte es zu einigem Wohlstand gebracht. Er war ein kultivierter Mann mit einem ausgeprägten Sinn für die Literatur. Er schrieb Lieder zu einer Zeit, als Liederschreiben in Frankreich noch gang und gäbe war, also zwischen 1830 und 1840. Aber er besaß keinerlei Ehrgeiz, und wenn er sich mit einiger Übung im Literarischen durchaus Achtung hätte verschaffen können, zog er es doch vor, alle Öffentlichkeit zu meiden. Seine Lieder wurden im Familienkreis gesungen, nur ganz wenige gelangten in Druck. Ich möchte hinzufügen, dass keiner von uns großen Ehrgeiz entwickelt hat; wir versuchten, unser Leben zu genießen und in Frieden unserer Arbeit nachzugehen. Mein Vater starb 1871, mit zweiundsiebzig Jahren. Sehen Sie, er hätte sagen können: ›Ein Jahr war ich alt, als das Jahrhundert geboren wurde<, um auf eine berühmte Bemerkung Victor Hugos zu seinem Geburtsdatum anzuspielen. - Meine Mutter starb 1887 und hinterließ zweiunddreißig Enkelkinder - siebenundneunzig Nachkommen, wenn man Vettern, Cousinen und deren Ehepartner hinzuzählt. Alle Kinder haben überlebt, womit ich meine, dass ihr der Tod keines ihrer fünf Kinder fortgenommen hat. Sie hatte zwei Söhne und drei Töchter, und sie alle sind heute noch am Leben. In der Bretagne sind Frauen und Männer von kräftiger Konstitution.

Mein Bruder Paul war und ist mein bester Freund. Ja, ich kann schon sagen, er ist nicht nur mein Bruder, sondern mein intimster Vertrauter, und diese Freundschaft besteht, seitdem ich mich erinnern kann. Wie viele Ausflüge wir in lecken Booten auf der Loire unternahmen! Als wir fünfzehn Jahre alt waren, gab es bis zum Meer keinen Winkel, keine Stelle an der Loire, die wir nicht schon ausgekundschaftet hatten. Und was waren das für traurige Kähne, mit denen wir uns zweifellos so mancher Gefahr aussetzten! Mal war ich der Kapitän, mal war es Paul. Aber Paul war der bessere von uns beiden. Wissen Sie, später trat er dann in die Marine ein und hätte ein ausgezeichneter Offizier werden können, wäre er nur kein Verne gewesen - womit ich sagen will, dass auch er keinerlei Ehrgeiz besaß.

Als ich zu schreiben begann, war ich zwölf. Es waren alles Gedichte, und zwar ziemlich schlechte. Allerdings erinnere ich mich an ein Glückwunschgedicht zum Geburtstag meines Vaters -in Frankreich nennen wir sie >compliments< - das für sehr gut befunden wurde, und ich wurde dermaßen gelobt, dass ich nachher ganz stolz war. Ich weiß noch, dass ich schon damals sehr viel Zeit über meinen Sachen zubrachte, sie abschrieb und wieder abschrieb und niemals so richtig zufrieden mit den Ergebnissen war.

Ich nehme an, dass man in meiner Liebe zu Abenteuern und zum Wasser den Keim erkennen kann, der Jahre später in meinen schriftstellerischen Neigungen aufgegangen ist. Und ganz gewiss hat sich die Arbeitsweise, wie sie sich damals für mich herausbildete, für mein ganzes weiteres Leben als verbindlich erwiesen. Ich glaube, dass ich auf diese Weise kein einziges Werk dahingepfuscht habe.

Ich kann nicht behaupten, dass ich mich jemals sehr in die Wissenschaft vertieft hätte - nein, das habe ich Wirklich nicht. Ich meine damit, dass ich niemals so richtig Wissenschaft studiert oder praktiziert habe. Allerdings machte es mir schon als kleiner Junge großen Spaß, Maschinen beim Funktionieren zuzusehen. Mein Vater hatte ein Landhaus in Chantenay, an der Loire-Mündung, und in der Nähe befand sich die staatliche Maschinenfabrik von Indret. (siehe dazu vertiefend: Link Jules Verne in Chantenay) Niemals kam ich nach Chantenay, ohne diese Fabrik zu besuchen und stundenlang den Maschinen bei der Arbeit zuzuschauen. Diese Neigung habe ich mir mein ganzes Leben lang erhalten, und noch heute empfinde ich ein ebenso großes Vergnügen, eine Dampfmaschine oder eine schöne Lokomotive in Fahrt zu beobachten, wie ein Gemälde von Raffael oder Correggio zu betrachten. Schon immer ist mein Interesse für die Industrie ein typischer Zug meines Charakters gewesen, ebenso typisch wie meine Liebe zur Literatur, über die ich gleich sprechen Werde, und meine Freude an den Schönen Künsten, die mich in jedes Museum und jede Gemäldegalerie getrieben hat, ja, ich kann sagen, in jede europäische Gemäldegalerie von einiger Bedeutung. Diese Fabrik in Indret, unsere Ausflüge auf der Loire und das Schmieden von Versen waren die drei großen Beschäftigungen und Freuden meiner Jugend. (siehe dazu vertiefend: Link Jules Verne zu Hause in Nantes)

Ich bin auf das Gymnasium von Nantes gegangen, wo ich bis zum Abschluss der Unterprima blieb und nach Paris geschickt wurde, um die Rechte zu studieren. Mein Lieblingsfach war schon immer die Länderkunde, aber als ich damals nach Paris ging, hatte ich nur literarische Pläne im Kopf. Ich stand ganz unter dem Einfluss von Victor Hugo und War Wirklich Wie berauscht von der ständig erneuerten Lektüre seiner Werke. Damals hätte ich ganze Seiten aus dem Glöckner von Notre Dame auswendig hersagen können. Aber am meisten beeindruckten mich seine Theaterstücke, und unter diesem Einfluss begann ich mit siebzehn Jahren eine Reihe von Tragödien und Komödien zu verfassen, ganz zu schweigen von Romanen. So schrieb ich etwa eine fünfaktige Tragödie in Versen, mit dem Titel Alexander VI., ein Trauerspiel über den Borgia-Papst. Ein anderer Fünfakter aus jener Zeit war die Tragödie Die Pulververschwörung mit Guy Fawkes als Hauptfigur. Ein Drama unter Ludwig XV. war eine weitere Verstragödie, und unter den Komödien befand sich zum Beispiel Die Günstlinge des Tages, in fünf Akten und in Versen. All diese Werke wurden mit der größten Gewissenhaftigkeit verfasst und mit unablässiger Sorgfalt im Hinblick auf den Stil. Ich habe immer sehr am Stil gefeilt, aber diesem Anspruch haben die Leute nie Glauben schenken wollen.

Ich kam als Student gerade zu der Zeit nach Paris, als die leichtlebigen Putzmacherinnen, mit alledem, was man so mit ihnen in Verbindung bringt, aus dem Quartier Latin verschwanden. (siehe dazu vertiefend: Link Jules Verne zu Hause in Paris) Ich kann nicht gerade behaupten, viel Zeit in den Kammern meiner Studienkollegen zugebracht zu haben, denn wie Sie wissen, sind wir Bretonen ein eigenes Völkchen, das lieber unter sich bleibt, und fast alle meine Freunde waren Klassenkameraden aus Nantes, die zum Studieren mit mir nach Paris gekommen waren. Fast alle meine Freunde waren Musiker, und in dieser Zeit meines Lebens habe ich selber Musik gemacht. Ich verstand etwas von der Harmonie, und ich glaube, Wenn ich es auf eine musikalische Karriere angelegt hätte, dürfte ich weniger Probleme damit gehabt haben als so mancher andere in der Folge. Victor Massé war einer meiner Studienfreunde, ebenso wie Delibes, mit dem ich so vertraut war, dass wir einander duzten [3]. Beide waren Freunde, die ich in Paris kennengelernt hatte. Zu meinen bretonischen Freunden zählte Aristide Hignard, ein Komponist, der es trotz eines zweiten Rompreises niemals schaffte, aus der Masse der anderen herauszuragen. Wir haben viel zusammengearbeitet. Ich verfasste die Texte, er die Musik. So schrieben wir drei oder vier Operetten, die aufgeführt wurden, sowie mehrere Lieder. Siehe dazu vertiefend: Link Jules Verne im Theater) Eines von diesen Liedern mit dem Titel Die Mastwächter, das für den Bariton Charles Battaille geschrieben worden ist, war damals sehr beliebt. Ich erinnere mich noch an den Refrain:

>Munter Jungens, wachsam, kühn,
Der Himmel ist blau, das Meer ist grün,
Aufgepasst und kühn.<

Ein anderer Freund, dessen Bekanntschaft ich während des Studiums machte und der bis heute mein Freund geblieben ist, ist Leroy, derzeitig Abgeordneter des Départements Morbihan. Aber der Freund, dem ich am meisten Dank und Zuneigung schulde, ist Alexandre Dumas der Jüngere, dem ich zum ersten Mal begegnete, als ich einundzwanzig war. Ganz schnell wurden Wir Busenfreunde. Er war der erste, der mich zum Schreiben ermunterte. Er war, würde ich sagen, mein erster Gönner. Heute sehen wir uns nicht mehr, aber solange ich lebe, werde ich niemals das Wohlwollen vergessen, das er mir entgegenbrachte, und die Dankbarkeit, die ich ihm schulde. Er hat mich seinem Vater vorgestellt. Wir schrieben zusammen an einem Stück mit dem Titel Die abgebrochenen Zelte (Les Pailles rompues), das am historischen Theater und später am Gymnasium aufgeführt wurde, und an dem Dreiakter Elf Tage vor verschlossenen Türen (Onze jours de siège), das am Vaudeville gespielt wurde.

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Damals lebte ich von der mageren Unterstützung, die mir mein Vater gewährte, und träumte vom großen Geld, was mich zu ein oder zwei Börsenspekulationen veranlasste. Natürlich haben sich meine Träume dadurch nicht in Wirklichkeit umsetzen lassen. Aber aus den wiederholten Besuchen der Wucherbretter in der Börse habe ich doch einigen Nutzen gezogen, indem ich lernte, was es mit der >Romantik des Handels< und mit dem Geschäftsfieber auf sich hat, die ich in vielen Romanen beschreibe und einsetze.

Neben den Börsenspekulationen, der Zusammenarbeit mit Hignard an Operetten und Chansons, mit Dumas an Komödien, schrieb ich kurze Erzählungen für Zeitschriften. Mein erstes Werk erschien in Link Le Musée des Familles, in dem Sie von mir eine Geschichte über einen Walmsinnigen in einem Ballon finden können - der erste Hinweis auf den Weg, den ich mit meinen Romanen beschreiten sollte. Dann war ich Sekretär am Lyrischen Theater, und im Anschluss Sekretär bei M. Perrin [4]. Ich liebe die Bühne samt allem, Was mit ihr Zusammenhängt, und die Arbeit, die ich am meisten genossen habe, War das Schreiben von Bühnenwerken.

Mit vierunddreißig schrieb ich meinen ersten wissenschaftlichen Roman. Das war Link Fünf Wochen im Ballon. Er wurde 1868 von Hetzel veröffentlicht und sogleich ein großer Erfolg.“

Hier unterbrach ich M. Verne und sagte: „Ich würde gerne wissen, wie Sie diesen Roman geschrieben haben, weshalb und wie Sie sich darauf vorbereitet haben. Hatten Sie überhaupt irgendwelche Kenntnisse von der Ballonfahrt, eigene Erfahrungen?“.

„Überhaupt keine“, antwortete M. Verne. „Ich schrieb Fünf Wochen im Ballon nicht als eine Geschichte über die Ballonfahrt, sondern als Geschichte über Afrika. Ich habe mich immer schon für Geographie und Reisen begeistert, und ich wollte eine romanhafte Beschreibung Afrikas liefern. Nun gab es keine andere Möglichkeit, meine Reisenden durch Afrika zu schicken als mit einem Ballon, und aus diesem Grunde führte ich eben diesen Ballon ein. Damals hatte ich noch keinen Aufstieg in einem Ballon unternommen. In der Tat bin ich nur ein einziges Mal in meinem Leben geflogen. Das War in Amiens, und lange nachdem ich meinen Roman veröffentlicht hatte. Dabei handelte es sich auch nur um >Vierundzwanzig Minuten im Ballon<, denn beim Start kam es zu einem kleinen Zwischenfall. Der Aeronaut Godard küsste seinen kleinen Sohn just in dem Augenblick, als der Ballon aufstieg, Wir mussten ihn mitnehmen, und damit war der Ballon so beladen, dass wir nicht weit fliegen konnten. Wir segelten gerade bis Longueau, dem Eisenbahnknotenpunkt, an dem Sie bei Ihrer Reise hierher vorbei gekommmen sind. Ich kann Ihnen versichern, dass ich sowohl zur Zeit, als ich den Roman schrieb, als auch heute, der Möglichkeit, einen Ballon einmal lenken zu können, keinerlei Glauben schenkte - es sei denn, man fliegt in absolut statischer Umgebung, so wie beispielsweise in diesem Raum. Wie könnte ein Ballon beschaffen sein, um Luftströmungen mit sechs, sieben oder acht Metern in der Sekunde standzuhalten? Das ist reines Wunschdenken; ich glaube, dass wenn die Frage je gelöst werden soll, man eine Maschine benutzen muss, die schwerer als die Luft ist und nach dem Prinzip des Vogels funktioniert, der selber schwerer ist als die Luft, die er verdrängt.“

„Dann haben Sie auf keine Wissenschaftliche Ausbildung aufbauen können?“

„Überhaupt nicht. Ich habe wirklich niemals irgendein wissenschaftliches Studium betrieben; allerdings habe ich bei meinen Lektüren überall Informationen angesammelt, die sich als sehr hilfreich erwiesen haben. Ich kann Ihnen versichern, dass ich ein großer Leser bin und dass ich immer mit dem Stift in der Hand lese. Überall trage ich ein Notizbuch mit mir herum und schreibe sofort wie Dickens‘ Mr. Pickwick all das auf, was mich interessiert und meinen Büchern dienlich sein könnte. Um Ihnen eine Vorstellung meiner Lektüre zu geben: Jeden Tag nach dem Mittagessen komme ich hierher und mache mich sofort an die Arbeit, fünfzehn verschiedene Zeitungen durchzugehen, immer die gleichen fünfzehn, und Sie dürfen sicher sein, dass nur wenig meiner Aufmerksamkeit entgeht. Finde ich etwas von Belang, wird es sofort notiert. Anschließend lese ich die Zeitschriften, etwa die >Revue Bleue<, die >Revue Rose<, die ›Revue des deux mondes<, >Cosmos<, Tissandiers >La Nature<, Flammarions >L' Astronomie<. Ich lese auch die Bulletins der Wissenschaftlichen Gesellschaften, vor allem der Geographischen Gesellschaft, denn Sie sehen ja, dass die Geographie zugleich meine Leidenschaft und mein Arbeitsgebiet ist. Ich besitze alles von Reclus - ich bin ein großer Bewunderer von Elisée Reclus - und den ganzen Arago [5]. Außerdem lese ich - immer wieder aufs Neue, denn ich bin ein äußerst sorgfältiger Leser - die Sammlung mit dem Titel ›Le Tour du monde<, eine Serie von Reiseberichten. Auf diese Weise habe ich viele tausend Notizen aus allen möglichen Gebieten angehäuft und verfüge heute zu Hause über mindestens zwanzigtausend Notizen, die, bislang noch ungenutzt, einmal Eingang in meine Werke finden können. Einige Notizen habe ich nach Unterhaltungen mit anderen Leuten angelegt. Ich liebe es, Leuten beim Sprechen zuzuhören, vorausgesetzt, sie sprechen über Dinge, von denen sie etwas verstehen. Ich hatte außerdem das große Glück, zu einer Zeit auf die Welt gekommen zu sein, zu der es Nachschlagewerke über jedes erdenkliche Wissensgebiet gibt. Ich musste nur darin das Thema nachschlagen, und schon hatte ich die Information, die ich brauchte. Natürlich habe ich mir im Laufe der Jahre auch viele Fakten angelesen, und wie ich schon bemerkte, habe ich viele wissenschaftliche Notizen im Kopf. Zum Beispiel saß ich eines Tages in einem Pariser Café und las in der Zeitung >Le Siècle< die Nachricht, dass ein Mensch binnen achtzig Tagen um die Welt reisen könne; da kam mir sofort die Idee, ich könnte von der Zeitverschiebung profitieren und meinen Reisenden auf seiner Reise einen Tag gewinnen oder verlieren lassen. Da war mein Schlusseffekt schon gefunden. Die Geschichte selbst wurde erst lange danach geschrieben. Ich trage Ideen jahrelang mit mir herum - manchmal zehn oder fünfzehn Jahre -, ehe ich ihnen eine Form gebe.

Mein Ziel ist es, die Erde darzustellen, und nicht nur die Erde, sondern auch das Universum, denn ich habe meine Leser im Roman manchmal weit von der Erde fortgeführt. Und zugleich habe ich versucht, einen sehr hohen Anspruch an die Schönheit des Stils zu verwirklichen. Man sagt gemeinhin, im Abenteuerroman könne es keinen Stil geben, aber das ist nicht wahr; obwohl ich zugebe, dass es sehr viel schwieriger ist, einem solchen Roman eine gute literarische Form zu geben als etwa den Charakterstudien, die heute so in Mode sind. Und lassen Sie mich ruhig zugeben“ - hier zuckte Verne leicht mit seinen breiten Schultern -, „dass ich kein großer Verehrer des sogenannten Psychologischen Romans bin, weil ich nicht verstehen kann, was ein Roman mit Psychologie zu tun haben soll, und deshalb bewundere ich auch nicht sonderlich diese sogenannten psychologischen Schriftsteller.

Eine Ausnahme mache ich allerdings für Daudet und de Maupassant. Für de Maupassant hege ich die größte Verehrung. Er ist ein Mann von Genie, der vom Himmel mit der Gabe gesegnet wurde, über alles schreiben zu können und so natürlich und leicht Sachen hervorzubringen, wie ein Apfelbaum Äpfel produziert.

Mein Lieblingsautor aber ist Dickens - und ist es schon immer gewesen. Ich kann wohl nicht mehr als hundert Wörter Englisch, so dass ich ihn in Übersetzungen lesen musste. Aber, Sir, ich erkläre vor Ihnen“ - Verne legte mit Nachdruck seine Hand auf den Tisch -, „dass ich den gesamten Dickens mindestens zehnmal gelesen habe. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn de Maupassant vorziehe, denn zwischen diesen beiden ist kein Vergleich möglich; aber meine Liebe zu ihm ist unermesslich, und in meinem nächsten Roman Der Findling werde ich den Beweis dafür antreten und sozusagen meinen Schuldschein abliefern. Ich war auch immer schon ein großer Bewunderer von Coopers Werken. Fünfzehn unter ihnen halte ich für unsterblich.“

Dann fügte Verne hinzu, so als würde er laut nachdenken: „Dumas sagte mir öfter, wenn ich mich bei ihm darüber beklagte, dass mein Platz in der französischen Literatur nicht anerkannt werde: >Sie hätten ein amerikanischer oder englischer Autor sein sollen. Dann hätten Ihnen Ihre ins Französische übersetzten Bücher eine enorme Popularität verschafft, und Ihre Landsleute würden Sie als einen der größten Meister des Romans anerkennen!<. So aber gelte ich als belanglos für die französische Literatur. Vor fünfzehn Jahren schlug Dumas meinen Namen in der Académie française vor, und Weil ich damals mehrere Freunde in der Akademie zählte, Labiche, Sandeau und andere, schien es eine Möglichkeit für eine Wahl und damit die formale Anerkennung meines Werkes zu geben [6]. Aber es hat niemals Erfolg gehabt, und wenn ich heute Briefe aus Amerika. erhalte, die an >M. Jules Verne of the French Academy< gerichtet sind, muss ich insgeheim lächeln. Seit der Zeit, als mein Name vorgeschlagen wurde, sind zweiundvierzig Wahlen aufeinander gefolgt, so dass sich die Akademie sozusagen einmal ganz erneuert hat. Mich aber hat man dabei übergangen.“

Bei dieser Gelegenheit äußerte M. Verne jene Worte, die ich aufgrund der Prägnanz ihrer Aussage an den Anfang dieses Berichtes gesetzt habe. Um das Thema zu wechseln, fragte ich den Meister nach seinen Reisen:

„Ich habe zu meinem Vergnügen gesegelt, allerdings immer mit dem Hintergedanken, Informationen für meine Bücher zu bekommen. (siehe dazu vertiefend: Link Familie Verne geht auf Reisen) Dies war mein unablässiger Grundgedanke, und jeder meiner Romane hat von meinen Reisen profitiert. So findet man in Der grüne Strahl die Wiedergabe persönlicher Erfahrungen und Beobachtungen von einer Reise nach Schottland, Iona und Staffa. Und für Ein Lotterielos zog ich Nutzen aus einer Reise nach Norwegen im Jahre 1861, als wir zu zweit im Kanal von Stockholm nach Christiania reisten und dabei durch siebenundneunzig Schleusen fuhren, eine außergewöhnliche Reise, drei Tage und drei Nächte auf einem Dampfschiff; mit einer kleinen Kutsche fuhren Wir dann in die Wildeste Gegend Norwegens, Telemark, und besuchten die neunhundert Fuß hohen Gösta-Fälle.

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In Schwarz-Indien ist der Bericht meiner England-Reise und der Besuch der schottischen Seen nachzulesen. Eine schwimmende Stadt ergab sich aus meiner Amerika-Reise im Jahre 1867, auf der >Great Eastern<: Ich fuhr nach New York, besuchte Albany und die Niagarafälle, wo ich zu meiner Freude das große Glück hatte, den Niagara zugefroren zu erleben. Das War am 14. April, und Fluten von Wasser stürzten sich in die offenen Schlünde aus Eis.

Mathias Sandorf profitierte von einer Reise von Tanger nach Malta auf meiner Jacht >Saint-Michel<, benannt nach meinem Sohn Michel, der mich zusammen mit seiner Mutter und meinem Bruder Paul auf der Reise begleitete. 1878 unternahm ich eine höchst lehrreiche und noch angenehmere Segeltour mit Raoul-Duval, dem jüngeren Hetzel, und meinem Bruder ins Mittelmeer. Reisen war das größte Vergnügen meines Lebens, und mit großem Bedauern musste ich es 1886 infolge eines Unfalls aufgeben. Sie kennen die traurige Geschichte eines meiner Neffen, der mich verehrte und den ich auch sehr liebhatte. Eines Tags kam er nach Amiens, um mich zu besuchen, und nachdem er irgendetwas wie toll gestammelt hatte, zog er einen Revolver und schoss auf mich, verwundete mich am linken Fuß, so dass ich für den Rest meines Lebens hinken muss. Die Wunde hat sich nie geschlossen, und die Kugel konnte nie entfernt werden. Der arme Junge War nicht bei Sinnen und sagte, er hätte das getan, um meinem Anspruch auf einen Platz in der Akademie Geltung zu verschaffen. Er ist nun in einer Anstalt, und ich fürchte, dass er niemals mehr genesen wird. Die große Enttäuschung, die sich für mich aus alledem ergibt, ist, dass ich wohl nicht mehr in die Lage kommen werde, Amerika wiederzusehen. Dieses Jahr hätte ich so gerne Chicago besucht, aber in meinem Gesundheitszustand mit dieser offenen Wunde war das so gut wie unmöglich [7]. Da Sie für die Menschen in Amerika schreiben, bitte ich Sie, ihnen mitzuteilen, dass wenn sie mich lieben - und dessen bin ich mir sicher, denn jedes Jahr erhalte ich tausende Briefe aus den Staaten - ich ihre Zuneigung von ganzem Herzen erwidere. Oh, wenn ich nur hingehen und sie alle sehen könnte, das wäre die größte Freude meines Alters!

Obwohl nun die meisten geographischen Angaben in meinen Romanen auf persönlichen Beobachtungen beruhen, musste ich mich manchmal für die Beschreibungen ganz auf meine Lektüre verlassen. Zum Beispiel im bereits erwähnten Roman Der Findlíng, der gerade herauskommt, beschreibe ich die Abenteuer eines kleinen Jungen in Irland. Ich stoße auf ihn, als er zwei Jahre alt ist und verlasse ihn, als er fünfzehn ist und sein Vermögen und das seiner Freunde gemacht hat - das ist ein Romanende, nicht wahr? Er reist durch ganz Irland, und da ich selber Irland nie besucht habe, habe ich die Beschreibungen der Land- und Ortschaften Büchern entnommen.

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Ich habe für mehrere Jahre im Voraus Bücher fertig. Der nächste Roman, also derjenige, der im kommenden Jahr veröffentlicht wird, heißt Meister Antífers wunderbare Abenteuer und ist bereits ganz fertiggestellt. Es ist die Geschichte einer Schatzsuche, und die Handlung basiert auf einer sehr interessanten geometrischen Aufgabe. Nun bin ich in den Roman vertieft, der 1895 erscheinen soll, aber ich kann noch gar nichts darüber sagen, weil er noch keinerlei Form angenommen hat.

Zwischendurch schreibe ich Erzählungen. So wird in der nächsten Weihnachtsausgabe des >Figaro< eine Geschichte von mir unter dem Titel Herr Dis und Fräulein Es erscheinen. (Dis und Es sind, wie Sie wissen, auf dem Klavier exakt dieselbe Note.) Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Hier kommt mein musikalisches Wissen ins Spiel. Nichts, Was man einmal gelernt hat, geht jemals verloren.

Die Leute fragen mich des Öfteren, wie auch Sie es getan haben, weshalb ich in Amiens Wohne, ich, der ich von Instinkt aus so durch und durch Pariser bin. Der Grund liegt darin, dass, wie schon gesagt, bretonisches Blut in mir fließt, ich Ruhe und Gemächlichkeit liebe und wohl nirgendwo glücklicher leben könnte als in einem Kloster. Ein ruhiges Leben, das ich dem Studium und der Arbeit widmen kann, ist für mich ein Vergnügen. Zum ersten Mal kam ich 1856 nach Amiens, wo ich die Dame kennenlernte, die nun meine Frau ist und die damals - sie hieß Madame Deviane - eine Witwe mit zwei kleinen Töchtern war. Familienbande und die Ruhe des Ortes haben mich seitdem an Amiens gefesselt. Und das ist eine gute Sache, denn wie mir Hetzel eines Tages mal sagte, hätte ich wohl zehn Bücher weniger geschrieben als es jetzt der Fall ist, wenn ich in Paris geblieben wäre. Ich genieße mein Leben sehr. Ich erklärte bereits, wie ich morgens arbeite und nachmittags lese. Ich halte mich so viel in Bewegung wie möglich. Das ist das Geheimnis meiner Gesundheit und Kraft. Und ich pflege Weiterhin meine Liebe zum Theater; Wann immer im kleinen Theater hier ein Stück aufgeführt wird, können Sie sicher sein, Madame Verne und ihren Gatten in ihrer Loge anzutreffen. Dann essen wir im Hotel Continental zu Abend, um noch einen kleinen Spaziergang machen und unserem Personal freigeben zu können. Unser einziges Kind, Michel, lebt in Paris, wo er verheiratet ist und drei Kinder hat. Er schreibt ganz gekonnt über wissenschaftliche Themen. Ich habe nur ein einziges Haustier; Sie sehen es auf der Photographie meines Hauses; das ist Follet, mein guter alter Hund.“

Ich stellte M. Verne eine Frage, die mir, wenn auch indiskret, so doch notwendig schien. Ich hatte gehört, dass der Erlös seiner wunderbaren Bücher unter dem Einkommen eines gewöhnlichen Journalisten liegen solle. Aus bestunterrichteter Quelle hatte ich erfahren, dass M. Verne im Durchschnitt niemals mehr als fünftausend Dollar jährlich verdiene [8]. M. Verne meinte dazu: „Darüber würde ich lieber gar nichts sagen. Es stimmt, dass meine ersten Bücher, eingeschlossen meine erfolgreichsten, für ein Zehntel ihres Wertes verkauft worden sind. Aber nach 1876, also nach dem Kurier des Zaren, wurde mein Vertrag geändert und mir ein angemessener Anteil am Gewinn aus meinen Romanen zugesichert. Aber ich habe mich nicht zu beklagen. Wenn mein Verleger auch Geld verdient hat - um so besser. Sicher könnte ich bedauern, keine günstigeren Konditionen für meine Werke ausgehandelt zu haben. So hat Reise um die Erde in 80 Tagen allein in Frankreich zehn Millionen Francs eingebracht, und der Kurier des Zaren sieben Millionen, von denen ich wesentlich weniger als meinen Anteil gesehen habe [9]. Aber ich bin und war nie ein Mensch, dem es nur ums Geldverdienen ging. Ich bin ein Mann der Literatur, ein Künstler, lebe dafür, einem Ideal nahezukommen, stürze mich versessen auf eine Idee, glühe vor Enthusiasmus über meinem Werk, das ich dann, sowie es fertiggestellt ist, beiseitelege und so gründlich vergesse, dass ich öfter in meinem Arbeitszimmer sitze, einen Roman von Jules Verne zur Hand nehme und ihn mit Freuden lese. Etwas mehr Gerechtigkeit von meinen Landsleuten mir gegenüber hätte ich millionenmal höher bewertet als die paar tausend Dollars, die mir meine Bücher zusätzlich zu dem, was ich an ihnen jährlich verdient habe, hätten einbringen müssen. Das bedaure ich wirklich und werde es immer bedauern.“

Ich warf einen Blick auf die Rosette des Offiziers der Ehrenlegion, die im Knopfloch der luftigen blauen Jacke des Meisters steckte. „Ja“, sagte er, „das ist ein wenig Anerkennung!“ Und fügte mit einem Lächeln hinzu: „Ich war der letzte, der im Kaiserreich ausgezeichnet wurde. Zwei Stunden, nachdem mein Dekret unterzeichnet worden ist, hatte das Kaiserreich aufgehört zu sein. Meine Beförderung zum Offizier wurde im Juli letzten Jahres unterzeichnet. Aber den Dekorationen jage ich ebenso wenig hinterher wie dem Gold. Es wäre schön, wenn die Leute sähen, was ich getan habe oder versucht habe zu tun, und sie sollten nicht den Künstler im Geschichtenerzähler übersehen. Ich bin Künstler“, wiederholte Jules Verne, richtete sich auf und trat nachdrücklich mit dem Fuß auf den Teppich.

„Ich bin Künstler“, sagte Jules Verne. Amerika - solange es ihn liest, wird ihm dabei begeistert zustimmen.

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Verne HandbuchDer obige Text wurde bereits im Jules Verne Handbuch, herausgegeben von Heinrich Pleticha, abgedruckt. Angaben zur Ausgabe: Bertelsmann Club GmbH, Gütersloh; die Buchgemeinschaft Donauland Kremayr und Scheriau, Wien; den Deutschen Bücherbund, Stuttgart und die ange-schlossenen Buchgemeinschaften. © Copyright 1992 Edition Stuttgart im VS Verlagshaus Stuttgart GmbH. Buch Nummer 05950 1. CF /5502/.

Wiedergabe von Volkers Artikels auf den Seiten 61 bis 74.




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Copyright © Andreas Fehrmann – 10/2023, letzte Aktualisierung 19. Oktober 2023