Die Welt der Technik Jules Vernes: Fahrzeuge - Die Schnellboote Electric


In seinen Voyages Extraordinaires, oder Reiseromanen wie sie früher im deutschsprachigen Raum genannt wurden, geht es natürlich oft um die Fragen der Fortbewegung. Konsequent nutzen die Helden Vernes alle damalig verfügbaren Möglichkeiten, wobei Verne in seiner Kreativität noch ergänzende Varianten „erfand“. Unter der Rubrik FAHRZEUGE möchte ich daher einige, der Fantasie Vernes entsprungene Schöpfungen, vorstellen. Stechen wir diesmal in See ...



Jules Verne Zitate sind wie gewohnt in blau dargestellt.





Thornycroft

Sir John Isaac Thornycroft, geboren am 1.2.1843 in Rom (Papstburg, heute Vatikan), gestorben am 28.6.1928 in Bembrigde / Isle of Wight. Bild aus /8/, Daten aus /9/

Für die Recherche von weiteren Personen im Umfeld von Jules Verne empfehle ich das Link Personenregister dieser Domain.


Quellenangaben, und vielleicht der Reiz etwas mehr darüber zu lesen? (Die Systematisierung bezieht sich nur auf die Nutzung für diesen Beitrag)

/1/ Verne, Julius: Mathias Sandorf (Bekannte und unbekannte Welten 47–49). Wien/Pest/Leipzig: A. Hartleben 1887, S. 235; CF /2712/

/2/ ebenda

/3/ Verne, Jules: Mathias Sandorf,  Bibliotheque d‘Éducation et de Recreation, Paris: Hetzel 1885, Bildzitat von S. 276; CF /2715/

/4/ ebenda S. 236

/5/ Österreichisch-ungarische Militär-Zeitung Vedette vom 17. April 1878, S. 244

/6/ Josse, M. H: “Bateaux torpilleurs par MM. John I. Thornycroft & Cie“.  In Revue Industrielle (1883), Doppelblatt PL1

/7/ Le Figaro vom 27. Sept. 1884, S. 1; CF /7227/

/8/ Cassier’s Magazine of New York 9 (1895–96), Portrait S. 322, Fotograf unbekannt, Bild wurde von mir optimiert

/9/ Biografischen Daten aus: Encyclopedia Britannica Inc. (Hrsg.): Encyclopedia Britannica. 15. Aufl. Chicago 2010

/10/ Mehl, Hans: Torpedoboote und Zerstörer. 1. Aufl. Berlin: VEB Transpress Verlag für Verkehrswesen 1983, Details auf  S. 15ff.; Sammlung Fehrmann.

/11/ Anonymes Quellmaterial, wurde von mir aus zwei Motiven kombiniert und mehrfach optimiert. Der Ursprung ist nicht mehr nachvollziehbar.

/12/ Historische Postkarte von 1895, ungelaufen; CF /21362/

/13/ Journal des Voyages vom 27. Juni 1886, Bildzitat von S. 408 u.a.; CF /7225/



Eine leicht gekürzte Fassung dieses Artikels erschien in gedruckter Form in der NAUTILUS Nr. 38 vom April 2021. Diese Zeitschrift ist das Magazin des deutschsprachigen Jules-Verne-Clubs. Die Wiedergabe erfolgte auf den Seiten 10 bis 16.

CF /7243/ -  Siehe Bild unten.


NAUTILUS Nr. 38




















Hier geht es zu meiner Beschreibung des Buches:  Mathias Sandorf






Frage: Wie kommt man am schnellsten mit einem wassergebundenen Fahrzeug kreuz und quer über das Mittelmeer? Doktor Antekirrt im Roman Mathias Sandorf zeigt es uns: Mit den Schnellbooten Electric.

OriginalillustrationIn mehreren Romanen lernen wir neue Fortbewegungsmittel à la Jules Verne kennen. In einigen sind sie ein tragendes Element, denken wir nur an die Nautilus, den Albatros oder die Épouvante, manchmal werden sie aber nur als ergänzendes Detail geschildert. Zu Letzteren gehört ein geheimnisvolles U-Boot in Erfindung des Verderbens (Vor der Flagge des Vaterlands) oder die Schnellboote Electric in Mathias Sandorf. In diesem Roman (erstveröffentlicht 1885), nutzt der Held Doktor Antekirrt Boote mit einer damals fast unvorstellbar hohen Geschwindigkeit. Wie müssen wir uns diese vorstellen?

Bild rechts: ELECTRIC als Originalillustration von Benett /3/

Lassen wir durch Zitate Jules Verne selbst zu Wort kommen: „Es war einer jener wunderbaren Thornycrofts, welche den heutigen Torpedobooten als Muster gedient haben. Dereinundvierzig Meter lange, spindelförmige, stählerne Rumpf von siebzig Tonnen Tragkraft führte weder Mast noch Schornstein, sondern zeigte äußerlich nur eine Plattform und ein metallenes Gehäuse mit linsenförmigen Luftöffnungen, welches dem Steuermanne zum Aufenthalte diente und luftdicht verschlossen werden konnte, wenn der Zustand des Meeres es erforderte“ (in anderen Übersetzungen auch Steuerhaus, Ruderhaus genannt) … „Mit einer weit höheren Geschwindigkeit ausgestattet, als sämtlichen Torpedobooten der alten und neuen Welt zu eigen ist, legte es bequem seine fünfzig Kilometer in der Stunde zurück“ /1/ Erreicht wird dies durch eine im Roman neu gewählte Konzeption des Antriebs: „Ein bemerkenswerter Unterschied aber existierte noch zwischen den Thornycrofts und den Fahrzeugen des Doktors. Während dort überhitzter Dampf die fördernde Kraft ist, war es hier die Elektrizität, welche mittelst mächtiger, von ihm selbst erfundener Akkumulatoren die Triebkraft bildete; er konnte in ihnen den elektrischen Strom mit einer fast unendlich zu nennenden Spannung aufspeichern. Diese Eilschiffe führten sämtlich den Namen Electric und zur Unterscheidung eine fortlaufende Nummer“ /2/.

OriginalillustrationBild links: ELECTRIC als Originalillustration von Benett /4/

In frühen literarischen Projekten lässt sich Verne noch zu detailreichen Beschreibungen für technische Lösungen hinreißen. Denken wir nur an den Ausdehnungsapparat der Victoria in Fünf Wochen im Ballon oder an die Energiegewinnung für das U-Boot Nautilus. Aber dann kam ein Umdenken: Eleganter und unverfänglicher ist es, wenn man nur die Wirkungen und den Ursprung der Antriebskraft beschreibt: Es sind Batterien von unbegrenzter Kapazität (nicht Spannung, wie Verne schreibt). So geschildert beim U-Boot Ker Karrajes in Erfindung des Verderbens, in den Fahrzeugen Roburs und eben hier bei den Electric-Booten. Mit solch einer allgemeinen Aussage kann man allen Detaildiskussionen über die praktische Ausführbarkeit den Wind aus den Segeln nehmen.

Im hier vorliegenden Roman Mathias Sandorf versuchte ich der Frage nachzugehen, wie Jules Verne im Entstehungsjahr des Romans, also 1884, auf den Engländer Thornycroft kommt. Wieso hält er dessen Entwicklung in seinem Buch erwähnenswert und wie bekannt können der Brite und seine Produkte zur damaligen Zeit in Frankreich gewesen sein? Schon 1874 baute Thornycroft das schnellste Dampfschiff der Welt. Es erreichte eine Geschwindigkeit von 25,08 Meilen pro Stunde (über 40 Kilometer pro Stunde). Im Jahre 1878 meldete eine österreichische Militärzeitung /5/, dass Thornycroft sechs Torpedoboote für die französische Marine bauen wird. Dies ist bestimmt auch in Frankreich publiziert worden. Im Jahrgang 1883 der Revue Industrielle /6/ war eine ganze Doppelseite mit Schnitten unterschiedlicher Torpedoboote Thornycrofts zu sehen. Siehe dazu den nachfolgenden Bildausschnitt:

aus der Revue Industrielle

Titelseite FigaroIch vermute, dass diese Publikation, die jährlich erschien und die ein Almanach der modernsten technischen Entwicklungen und Trends war, dem fleißigen Bibliotheksleser Verne nicht verborgen blieb. Im September 1884 schaffte es eine bebilderte Torpedobootattacke sogar auf die Titelseite des Le Figaro. Dies sind nur Beispiele: Damaligen Lesern waren Boote dieser Art bekannt.

Bild rechts: Ausschnitt aus einer Titelseite des Figaro /7/

Generell machte Thornycroft (Siehe Portrait linke Randspalte oben /8/) zu dieser Zeit viele Schlagzeilen, denn er war als Marinearchitekt und Ingenieur in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts schnell berühmt geworden. Sir John Isaac Thornycroft wurde am 1. Februar 1843 in Rom geboren und starb am 28. Juni 1925 in Bembridge, Isle of Wight. Er gilt als der Begründer der modernen Torpedoboottechnik, da er fundamentale Verbesserungen in der Schiffskonstruktion und der Maschinenausrüstung machte. Er ist der Entwickler und Hersteller des ersten englischen Torpedobootes /9/. Die von ihm gegründete Werft stellt noch heute unter seinem Namen Boote und Schiffe her.

Ein typisches ThornycroftbootBild links: Ein typisches Thornycroft Torpedoboot /10/

Diese Schiffsklasse wurde als Gegenmaßnahme zum Angriff großer Kriegsschiffe entwickelt. „Die ersten unter diesem Gesichtspunkt entworfenen Torpedoboote wurden von der britischen Werft Thornycroft gebaut […] 1877 stellte die Royal Navy ihr erstes Torpedoboot, die Lightning, in Dienst. Das Boot hatte eine Wasserverdrängung von 27 t […] und lief 18 sm […] Nach diesem Grundprojekt wurden bis zum Jahre 1883 etwa 250 Boote für viele Auftraggeber gebaut. Bei laufenden Verbesserungen stieg die Wasserverdrängung allmählich auf 50 t an /10/.

Die Thornycroft-Werft war kein der britischen Regierung direkt unterstellter Militärausrüster. So verkaufte man, wie schon oben erwähnt, an viele Staaten. Neben dem Bedarf der Royal Navy lieferte man nach Frankreich, Norwegen, Schweden, Dänemark, Russland, Holland, Österreich und Italien (Fakten aus /5/). So verwundert es nicht, dass Thornycroft-Boote aufgrund der weiten Verbreitung zur damaligen Zeit populär waren.

Die australische Version der Lonsdale

Bild rechts: Die australische Version der Lonsdale im Einsatz /11/

Beim Betrachten der Bilder von Léon Benett im Sandorf-Roman liegt der Verdacht nahe, dass britische Boote als Vorlage für die Illustrationen dienten. Vergleichen wir doch einmal Realität und Fiktion. Unmittelbar vor unserer Geschichte bestellte 1882 die viktorianische Regierung zwei 2nd Class Torpedo Boote bei der J. I. Thornycroft and Co. of Church Wharf in Chiswick, England. Eins davon war die im Bild zu sehende H.M.V.S. Lonsdale. Ein gleichartiges Schiff wurde unter gleichem Namen 1902 in Australien nochmals auf Kiel gelegt, daher gibt es bei weiterführenden Recherchen oftmals Verwechslungen (siehe dazu Bild rechts oben). Wenn man sich den Schornstein, der ja bei einem Elektroantrieb nicht benötigt wird, wegdenkt, dann stimmen die Konturen und die Größenverhältnisse mit den idealisierten Umrissen der Electric fast überein. Siehe dazu die alten Stiche ganz oben von der Electric. Gleiches gilt für die Bilder, in denen auffällig die Pillbox (Pillenschachtel) oder der Conning Tower, bei Verne Steuerhaus genannt, zu sehen ist. Dieses hatte Benett in den Stichen der Sandorf-Illustrationen deutlich herausgearbeitet.

PK von 1895Bild rechts: Eine französische Postkarte von 1895 - Kriegstechnik ist auch hier salonfähig /12/

Apropos Vergleich: Stellen wir doch mal die Größenangaben der Lonsdale denen der Electric gegenüber: Die Electric wird von Verne mit einer Länge von einundvierzig Metern angegeben und sie ist damit mehr als doppelt so groß wie die Lonsdale. Aber jetzt kommt das Eigentümliche: Ich habe im Bild Benetts die Größe des Matrosen mit 1,8 Meter angesetzt. Wenn ich diese im Verhältnis zur Bootsgröße setze, erhalte ich eine Bootslänge von 19,6 Meter und nicht die 41 Meter Vernes. Aufgrund dieser Proportionen vertrete ich die Meinung, dass Benett sich nicht an den Beschreibungen des Textes von Jules Verne hielt, sondern dass er eine Bildvorlage von kleineren Booten der Royal Navy hatte, die er in seinen Stichen nutzte.

Boot im EinsatzDer stets aufmerksame Jules Verne hatte die Entwicklung der schnellen Torpedoboote beobachtet. Aber er hatte eine „Rüstungskonversion“ vorgenommen: Waffenlos diente die technische Grundidee seinem Romanhelden als schnelles Fortbewegungsmittel.

Bild rechts: Torpedoboot im Einsatz, unten die Verproviantierung auf See, beides aus /13/, illustriert von Benett

aus dem Journal des VoyagesNachtrag:

Dass man damals mit militärischen Entwicklungen offenbar keine Berührungsängste hatte, zeigt eine Artikelserie, die ein Jahr nach dem Erscheinen unseres Romans in der Zeitschrift Journal des Voyages /13/ in mehreren Ausgaben publiziert wurde. Unter dem Titel An Bord eines Torpedobootes gab es umfangreiche Beschreibungen und Illustrationen zum Thema. Und wer illustrierte das Ganze? Léon Benett, der gleiche Künstler der uns auch schon die Illustrationen zum Sandorf schuf. Ob er schon vor dieser Serie in Marinekreisen aktiv war, konnte ich nicht herausbekommen. Aber denkbar wäre es. Wie sagt man so schön: So klein ist die Welt ...


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